Frauen Als "Erinnerungsspeicher" in Tanja Dückkers Roman "Himmelskörper"
Frauen Als "Erinnerungsspeicher" in Tanja Dückkers Roman "Himmelskörper"
7-2-2012
Recommended Citation
Ebnother-Perry, Erin. "Erinnern ist Frauensache? - Frauen als "Erinnerungsspeicher" in Tanja Dckers' Roman "Himmelskrper"."
(2012). http://digitalrepository.unm.edu/fll_etds/17
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i
Erin
Ebnother-Perry
Candidate
Foreign
Languages
and
Literatures
German
Studies
Department
This
thesis
is
approved,
and
it
is
acceptable
in
quality
and
form
for
publication:
Approved
by
the
Thesis
Committee:
Susanne
Baackmann
,
Chairperson
Katrin
Schrter
Jason
Wilby
ii
by
THESIS
Master of Arts
German Studies
May
2012
iii
DEDICATION
To my family
To my girlfriends, who inspire me, support me, and encourage me. I thank you.
ACKNOWLEDGEMENTS
I would like to first and foremost thank my incredibly helpful, friendly, accommodating,
and knowledgeable committee members, Dr. Susanne Baackmann, Dr. Katja Schrter,
and Dr. Jason Wilby.
My committee chair Dr. Susanne Baackmann always had an open door as well as a
sympathetic ear for my questions, concerns, and problems. The time she dedicated to
reading, correcting, and discussing aspects of my thesis will always be greatly
appreciated. She believed in me and encouraged me, when I was too tired to do so myself
and calmed my nerves, when I was worried, scared and freaking out.
After I graduated with a B.A. in 2008, it was Dr. Katja Schrter who encouraged me to
apply to the M.A. Program in German Studies at the University of New Mexico.
Needless to say, I would not be here, if it werent for her unwavering encouragement and
support. She always showed a great amount of interest in her students wellbeing, and a
willingness to accommodate everyones needs and interests in the courses she taught.
Dr. Jason Wilby was an equally helpful, accommodating, and encouraging committee
member, who always offered constructive criticism regarding my thesis, as well as
helpful teaching advice.
Furthermore,
I
would
like
to
thank
Jacqueline
Ochoa
and
Evelyn
Harris,
who
work
in
the
main
office
of
the
Foreign
Languages
and
Literatures
department,
for
all
their
help
and
care.
The
endless
stream
of
paperwork
and
the
varying
deadlines
would
have
been
unmanageable
without
their
support.
And
last
but
not
least,
I
would
like
to
thank
Dr.
Marina
Peters
Newell,
from
whom
I
learned
everything
I
know
about
teaching
a
foreign
language
and
meeting
discouraging,
frustrating
situations
with
a
smile
on
my
face.
Thank you all.
v
by
ABSTRACT
The sinking of the Wilhelm Gustloff on January 30th 1945 caused the death of nine
thousand German refugees, the greatest number of deaths caused by a single sinking ship
in maritime history. For a long time, this catastrophe was considered a forgotten topic,
simultaneously mitigating the horrific crimes committed by the Germans during the
Holocaust. In light of the passing of the first generation of World War II eyewitnesses,
the third generation in Germany is confronted with a unique situation. How will they
simultaneously remember and retell their grandparents stories of suffering, knowing full
well that their grandparents were also involved in the crimes of National Socialism?
family secrets. She attempts to find the answers to yet unanswered questions regarding
her mothers and grandmothers identity as women and mothers, before her own daughter
is born. Freia becomes increasingly aware that memory and gender are interdependent in
complex ways. As Freia uncovers the secret of her mothers and grandmothers flight
from Gotenhafen and how they managed to escape the fate of nine thousand other
vi
German refugees on the Wilhelm Gustloff, she also uncovers evidence exposing her
wartime crimes, while simultaneously articulating the extent to which specific gender
vii
INHALT
1. Einleitung ..................................................................................................................... 1
5. Fazit ............................................................................................................................. 80
6. Bibliographie .............................................................................................................. 82
1
1. Einleitung
1945, dem Untergang der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 und der Befreiung
von Auschwitz am 27. Januar 1945 stellt sich in den Medien wiederholt die Frage,
Trauer entzweit wie folgt formuliert: Wie lsst sich an deutsche Opfer im Zweiten
kosteten, wie etwa der Untergang der Wilhelm Gustloff, als Tabuthemen. Als die
Swinemnde transportieren sollte, wurde sie von drei Torpedos getroffen und
versank in der Ostsee. Von den zehntausend Menschen an Bord starben rund
neuntausend, was den Untergang der Wilhelm Gustloff zur grten uns bekannten
Katastrophe als beim Untergang der Titanic ums Leben kamen und dennoch wurde
ffentlichkeit jedoch an dieses Thema heran und versucht, die Geschichte der
Kritiker jedoch warnen, ist, dass untersttzt durch die mediale Karriere des
Zeitzeugen, [...] sich das Opfernarrativ aus den Schranken einer aufklrerischen
Vergangenheitsbewltigung
gelst
[hat]
und
[...]
von
den
Opfern
der
Deutschen
zu
2
den Deutschen als Opfern zurckgekehrt [ist]. (Sabrow) Ist es mglich Erzhlungen
deutscher Kriegsopfer aus dem Tabuverlie zu lsen, ohne dadurch das Ausma der
Erinnern und richtiges Vergessen befragt. In diesem Interview macht Welzer auf
die Problematik der dritten Generation aufmerksam, die er auch in seiner 2002
verffentlichten Studie Opa war kein Nazi ausfhrlich erlutert. Er meint, dass die
dritte Generation das Opfernarrativ der Groeltern nicht mit den Grueltaten des
Nationalsozialismus, die sie aus den Medien kennen, vereinbaren kann, woraus das
Konstrukt des lieben, guten Opas, der nichts Bses getan haben kann, entsteht.
Aleida Assmann wendet dem hingegen ein, dass man diesbezglich jedoch zwischen
argumentiert:
ist der Ansto fr die Suche nach der Leerstelle, die man erst mal erkennen
muss, um sie zu fllen. Diesen Plot gibt es zum Beispiel in Tanja Dckers'
Wenn der Grovater ber ein Bienenvolk spricht, aber den NS-Staat meint.
Wenn die Gromutter Alzheimer bekommt und ein bisschen plappert. Dann
wird das Verschwiegene sichtbar, das durch direkte Fragen nie auf den Tisch
Familiengesprchen der Fall ist. Ein Beispiel dieser Erinnerungsliteratur ist der
Roman Himmelskrper (2003), der auf der einen Seite die Problematik des gestrten
Protagonistin Freia Sandmann, zeigt, wie man sich der deutschen Opfer des Zweiten
relativieren. So werden von der Protagonistin Tabuthemen wie der Untergang der
Wilhelm Gustloff aus der Versenkung geholt und dabei das Opfernarrativ der
Groeltern kritisch beleuchtet und nach dem Tod der ersten Generation von der
Der Begriff Identitt nimmt in der Gedchtniskultur laut Aleida Assmann heute eine
neue Dimension ein. Die Erfahrung eines historischen Traumas fhrte zu einer
konstruktionen. ( A. Assmann 23) Die Identittsdimension, d.h. die Antwort auf die
Frage was wollen wir erinnern und die ethische Dimension, also die Antwort auf
die Frage was sollen wir erinnern, stehen sich dabei oft kontrastiv gegenber.
Wenn man sich also zu sehr mit der Frage, woran man sich erinnern mchte
beschftigt und das was erinnert werden sollte unbeachtet lsst, luft man Gefahr
ffentliche Debatte bezglich der Frage Wie erinnern wir uns an die deutschen
Himmelkrper verdeutlicht, wie der Balanceakt zwischen dem was sollen wir
erinnern und dem was wollen wir erinnern angegangen werden kann. Freia
Lage, da diese die letzte Generation ist, die der ersten Generation bezglich ihrer
persnlichen Erfahrungen und Erzhlungen noch zuhren kann. Diese Art von
Was bewusst oder unbewusst anhand der Erinnerungen vermittelt wird, sind nicht
werden.
Diese Arbeit beschftigt sich mit dem von Tanja Dckers 2003
verffentlichten Roman Himmelskrper und der Frage nach den Formen und
verbindet, inwieweit also das kulturelle sowie das kommunikative Gedchtnis als
zwischen der ersten, zweiten und dritten Generation im Dialog mit aber auch im
wichtige Rolle, aufgrund der Tatsache, dass das kommunikative (also private,
familire) Gedchtnis einen eingeschrnkten Zeitraum von ca. 80100 Jahren hat,
was bedeutet, dass die vierte Generation nicht anhand des kommunikativen
keinen direkten Zugang zu dieser Form der Erinnerungspraxis hat. Die stummen
etc.) die unter anderem in Schulen und Universitten zum Gegenstand werden, alles
was von der jeweiligen Familienvergangenheit briggeblieben ist. Die Frage danach,
wie in den jeweiligen Generationen erinnert wird und was von diesen Generationen
eine wichtige Rolle. Wie also geht die Protagonistin Freia Sandmann, als Vertreterin
vorgaben von Mutter und Gromutter um? Auf welche Weise werden in diesem
eine identittsstiftende Funktion fr Freia Sandmann? Auf diese Fragen mchte ich
Alexander und Margarete Mitscherlich ihre Studie Die Unfhigkeit zu trauern, in der
sie die Taubheit und Gefhlsstarre der Deutschen gegenber ihrer Vergangenheit
thematisierten. Genauer gesagt, stellten sie die These auf, dass Taubheit und
Hitlerregime waren. Die achtziger und neunziger Jahre sind bezglich der
die in den 80er Jahren bereits den Begriff des kulturellen Gedchtnisses definierten,
Anstzen auf den in den 20er Jahren verffentlichten soziologischen Studien zum
mmoire collective von Maurice Halbwachs. Jan Assmann behauptet, dass man
Sammelbegriff
unter dem [...] wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentmlichen
deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv
Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und
entsteht bzw. transponiert wird und einen eingeschrnkten Zeitraum von 80 bis
100 Jahren, bzw. drei bis vier Generationen umfasst. Das kulturelle Gedchtnis
Vergangenheit, d.h. das kulturelle Gedchtnis umfasst einen viel breiteren Zeitraum
das kommunikative Gedchtnis [...] Erinnerungen [umfasst], die sich auf die
mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-
in
der
Zeit
und
vergeht
mit
ihr,
genauer:
mit
seinen
Trgern.
(50)
10
Der Generationskonflikt, der sich in Deutschland durch die Nachkriegszeit zieht, d.h.
der Konflikt zwischen der Generation, die im Zweiten Weltkrieg kmpfte und deren
Kindern, zeichnet sich vor allem durch den Wunsch der ersten Generation aus, mit
der Vergangenheit abzuschlieen und dem Bedrfnis der zweiten Generation, die
mglich, bzw. sie fhlten sich unfhig, ber diese Vergangenheit zu sprechen und
die zweite Generation wollte sich von den Grueltaten dieser Generation moralisch
abgrenzen. Da die erste Generation mittlerweile hoch betagt bzw. verstorben ist,
verkrpert die zweite bzw. dritte Generation die letzte Generation Deutschlands,
die noch ber ihre Eltern bzw. Groeltern, d.h. durch die Unmittelbarkeit des
Das Sterben der ersten Generation, sowie die Wiedervereinigung und der
Vorzeichen einer neuen Nation, das heit, die Suche nach einer gemeinsamen
gefhrt, die sich auf literarischer Ebene mit dem Niederschlag der Geschichte im
innerhalb einer Familie auf und verdeutlicht anhand der weiblichen Ich-Erzhlerin,
heit, dass sie unter den Vorzeichen mnnlich bzw. weiblich an die
aufgrund der ungleichen und ungerechten Verteilung von Macht zwischen Mnnern
und Frauen und aufgrund ihrer Erziehung als Pflegerin und Mutter in unserer
der Frau als Erinnerungstrgerin oder Historikerin, wie Patricia Holland die Rolle
(9) Vielmehr fhrte die latente Verdrngung der Frau in den privaten und
huslichen Bereich, die laut Patricia Holland auch im spten 20. Jahrhundert in
um das kulturelle Gedchtnis [...] immer mehr oder weniger strikte Grenzen
1
Natrlich
sind
und
fhlen
sich
nicht
alle
Frauen
in
den
huslichen
Bereich
abgedrngt.
Die
Rolle
der
Frau
innerhalb
der
Gesellschaft
ist
weitaus
komplizierter,
als
das
man
problemlos
behaupten
knne,
Frauen
seien
generell
auf
den
huslichen
Bereich
beschrnkt.
Die
soziale
Klasse
als
auch
die
Bildung
spielen
diesbezglich
eine
wichtige
Rolle,
worauf
ich
in
meiner
Arbeit
jedoch
nicht
eingehen
werde.
12
Auf der einen Seite werden Frauen aufgrund ihrer konomischen als auch
Vergangenheit und ihre NS-Bewltigung, wie etwa die Goldhagen Debatte, die
grtenteils von einer Abwesenheit von Frauen zeugen, bedeutet das nicht, dass
und auf sie projizierten Frauenbilder leben und auf der anderen Seite diese Bilder
wren, sondern daran, dass sie auf eine andere Art und Weise in ihnen prsent
sind. Die Marginalisierung der Frauen mit Bezug auf aktive, ffentliche Geschehen,
Debatten und Diskurse hat dazu gefhrt, dass Erinnerungen von Frauen in Form von
Gedchtnis prsent sind. Da Frauen in ihren Funktionen als Mtter und Ehefrauen
privaten Fotoalbum der Erinnerung hingegen spielen Frauen eine wichtige Rolle.
Das bedeutet, die Frau ist paradoxerweise Teil jener kulturellen Erinnerungs-
widersprchliche Rolle der Frau und behauptet, dass Frauen zwar in gewisser
Weise von der kulturellen Ordnung ausgeschlossen sind, indem sie in den privaten,
huslichen Bereich abgedrngt werden, sie jedoch gleichzeitig als primr privat und
Da die kulturelle Ordnung von Mnnern regiert wird, aber die Frauen ihr
dennoch angehren, benutzen auch diese die Normen, deren Objekt sie selbst
sind. D.h. die Frau in der mnnlichen Ordnung ist zugleich beteiligt und
ausgegrenzt. Fr das Selbstverstndnis der Frau bedeutet das, dass sie sich
selbst betrachtet, indem sie sieht, dass und wie sie betrachtet wird. (85)
Mit anderen Worten, Frauen fallen den auf sie projizierten Bildern zum Opfer, die
sie auf der einen Seite mitkreieren bzw. untersttzen und auf der anderen Seite
bereitwillig konsumieren, bzw. duplizieren. Es ist der Frau unmglich, sich in einem
patriarchalischen
System
nur
ber
sich
selbst
zu
definieren.
Sie
bedarf
eines
14
Mannes, ber den sie sich als Frau definieren kann.2 Diese paradoxe Position, die
fhrt dazu, dass sie Wissen und Erinnerungen sammeln, die ein eher marginaler Teil
des dominanten kulturellen Gedchtnisses sind. Das bedeutet aber auch, dass die
Ein weiterer Faktor, der dazu beitrgt, dass Erinnerungen u.a. als
Funktion und Natur, bzw. den Symbolgehalt des menschlichen Krpers, der als
Rolle spielt. (Stephan 73) Christina von Braun erklrt, dass die Kulturen, in denen
aufgeladen haben, insofern er als weiblich kodiert und zum Ort der Einschreibung
Indem das geschriebene Wort sich strukturierend auf die mndliche Sprache
auswirkte, hatte es auch eine Strukturierung des Krpers durch das Denken
zur Folge. Eben das sollte auf die Geschlechterordnung zurckwirken. Mit
der vollen Alphabetschrift, mit der sich sowohl das Versprechen geistiger
2
Ich
mchte
an
dieser
Stelle
bemerken,
dass
es
auch
dem
Mann
nicht
mglich
ist,
sich
ber
sich
selbst
zu
definieren,
da
auch
das
Bild
des
Mannes
ein
soziales
Konstrukt
ist,
das
keineswegs
unproblematisch
ist.
Auf
die
Mnnerforschung
werde
ich
im
Rahmen
dieser
Arbeit
jedoch
nicht
nher
eingehen
knnen.
15
zum Symboltrger des Geistigen und der weibliche Kper zum Symboltrger
weibliche Krper hauptschlich als Symboltrger der Sexualitt fungiert, lassen sich
den Kper gebundene und damit flchtige Erzhlungen sind, whrend schriftliche
berlieferungen als mnnlich d.h. permanent kodiert sind. (von Braun 20) Da der
Krper u.a. auch als Gedchtnisspeicher fungiert, sind die Produktion und
Die Reproduktion und Produktion von Erinnerung erweist sich als ein
reproduzieren Frauen aber nicht nur Erinnerungen, sie sind gleichzeitig aktiv an der
Identitt, die Antwort auf die Frage ist, wer man ist und woher man kommt, auf
basiert, erzeugen Frauen, laut Sigrid Weigel, ein verzerrtes Bild ihrer selbst.
des
Mannes
berlassen
hat,
ist
sie
fixiert
auf
eine
im
musternden
Blick
des
16
Zerr-Spiegel des Patriarchats. Auf der Suche nach ihrem eigenen Bild muss
sie den Spiegel von den durch mnnliche Hand aufgemalten Frauenbildern
befreien. (85)
Das heit, dass Frauen sich ber oder durch den Blick des Mannes definieren, und
dass die Identitt der Frau von diesem vom Patriarchat konstruierten Bild der Frau
abhngig ist. Es ist der Frau unmglich, sich innerhalb der patriarchalischen
Gesellschaft nur ber sich selbst zu definieren und somit definiert sich die Frau
immer in Bezug auf den Mann und andere Individuen. Die Frage nach ihrer Identitt
steht also in einem unmittelbarem Verhltnis zum Mann, welcher quasi dem
Ausgangsgeschlecht angehrt.
Ausgangsgeschlecht, sieht sich vor einige Hindernisse gestellt, zumal sich die Frau
definieren und artikulieren kann, eine Sprache, die ein Spiegelbild der
wie man, jeder oder jedermann nur mitgemeint aber nicht explizit erwhnt, d.h.
negiert. 3 Wie Sigrid Weigel behauptet, muss sich die Frau zuerst die auf sie
projizierten und von ihr reproduzierten und konsumierten Bilder bewusst werden,
3
Im
Rahmen
meiner
Arbeit
fge
auch
ich
mich
den
gelufigen
Konventionen
der
Um ihre spezifische Rolle als Frau in allen Bereichen und auf allen Ebenen
durchschauen zu knnen, werden sie den starren Blick auf die sogenannte
Diesen schielenden Blick werden sie erst korrigieren knnen, wenn sich die
D.h. es ist fr Frauen momentan noch unmglich, sich vollkommen aus ihrer Rolle
vllig von der Abhngigkeit, von der vom Mann auf sie projizierten Bilder zu
befreien. Sie sollten aber zumindest diese Frauenbilder immer mit einem Blick im
Auge behalten. Genauer gesagt, die Frau muss bis hin zu ihrer utopischen Befreiung
aus der patriarchalischen Ordnung lernen, die Frauenbilder, durch die sie bestimmt
gleichzeitig versuchen sollte, sich langsam von ihnen zu befreien und neue Bilder zu
schaffen, Bilder, die den Mann zwar einschlieen, jedoch nicht mehr als
Ausgangsgeschlecht.
Erinnerung und Traditionsbildung (172) ist und drittens, ob der Roman selbst eine
aktiv
mitgestaltet.
(190)
Dabei
versteht
Giesler
die
Funktion
der
Frauen
in
18
Erinnerung (174) und behauptet, dass sich in diesem Text die Mnner aus der
unterschiedliche Aspekte der Generativitt und somit Licht auf einen blinden
Fleck in der sex/gender-Debatte. (187) Giesler stellt heraus, dass die Ich-Erzhlerin
Krebsgang deutlich von dem der Mnnerfiguren unterscheiden lsst. Dies bedeutet
laut Pucalikov jedoch nicht, dass die Mnner im privaten Raum keine Erinnerungs-
arbeit leisten. Vielmehr lsst sich konstatieren, dass Erinnern und Vergessen
jedoch Unterschiede bezglich der Themenwahl, der Art und Weise wie erinnert
wird und in den mit den vergangenen Ereignissen und Erlebnissen verbundenen
im
Erinnerungsprozess
eine
wichtige
Rolle
spielen
und
sich
unterschiedlich
auf
die
19
jeweiligen Intentionen der Geschichten auswirken. D.h. dass Geschichten der Frauen
Hass-und Rachegefhle.
Familienromanen werde ich mit meiner Arbeit einen Beitrag leisten und
Generation geht mit den Vorgaben der patriarchalischen Frauenbilder, als auch mit
der ersten und zweiten Generation der Fall war. Als Vertreterin der dritten
Generation dekonstruiert Freia retrospektiv die von Gromutter und Mutter an sie
Tanja Dckers mit ihrem Text eine Antwort auf die Frage liefert, wie man den
verdeutlicht Dckers, dass die Dritte Generation dazu in der Lage ist, sich an das zu
erinnern, was erinnert werden soll als auch an das was erinnert werden will.
Aufgrund ihrer spezifischen Position als Frau innerhalb einer nach wie vor
Gromutter Johanna beispielsweise nicht wie ihr Mann Maximilian in den Krieg
Ende des Krieges sich und die Tochter unversehrt in Sicherheit zu bringen. Die
gesprchige Johanna fungiert bis zu ihrem Tod innerhalb der Familie als
Johanna verkrpert somit ein oftmals reproduziertes und konsumiertes Bild der
Frau zu Kriegszeiten, nmlich das des passiven, weiblichen Opfers, das brav auf die
Rckkehr ihres tapferen Mannes wartet und sich und ihre Tochter mitsamt ihrer
Einseitigkeit dieses Bildes ist gefhrlich, zumal im Laufe des Romans deutlich
gemacht wird, dass Johanna ihre wahre Identitt, die nichts mit der guten Seele, die
sie zu vermitteln versucht, zu tun hat, hinter diesem tugendhaften Bild der Frau
Im Unterschied dazu fungiert Mutter Renate, die zum Kriegsende erst 5 Jahre
alt ist, in dieser Familie zwar auch als Erinnerungstrgerin, hauptschlich jedoch als
traumatische Erinnerung an die Flucht und der daraus resultierende Tod ihres
Zurckgezogenheit, spter dann nach dem Tod der Gromutter direkt, in Form
Verhalten
und
ihre
Zurckgezogenheit
auf
den
huslichen
Bereich,
prgt
Renate
21
bewusst und unbewusst Vorstellungen von Weiblichkeit. Renate ist im Roman vor
ausgesetzt war, und leidet gleichzeitig an den Limitierungen der Frauen- und
whrend Mann und Kinder ihrem Leben nachgehen. Sie ist quasi Gefangene ihrer
trgerin der Familie und kontrolliert somit, was und auf welche Art und Weise, die
Vergangenheit an die Enkelgeneration vermittelt wird. Erst nach dem Tod der
Gromutter, bernimmt Renate die Rolle der Erinnerungsstimme von Kriegs- und
Fluchterfahrungen und das volle Ausma ihrer Traumatisierung durch die Flucht-
erfahrung wird offensichtlich, als sie sich das Leben nimmt und somit zum ersten
und letzten Mal die Macht und Kontrolle ber ihren Kper bernimmt.
Erinnerungen der Enkelkinder, Paul und Freia, in Form von Postmemories, ihren
Platz ein. Postmemory ist ein von Marianne Hirsch geprgter Begriff, der von ihr
very particular form of memory precisely because its connection to its object
investment
and
creation.
This
is
not
to
say
that
memory
itself
is
unmediated,
22
their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the
Generation vermittelt werden. Sie knnen die zweite, dritte oder auch vierte
Generation betreffen, je nachdem welche Generation das Trauma erlebt hat und die
Caroline Schaumann erklrt, dass der von Marianne Hirsch geprgte Begriff
Postmemory nicht zwischen den Erfahrungen der zweiten und dritten Generation
verformt bevor diese an die dritte Generation weitergegeben werden knnen. (263)
Das bedeutet, dass die zweite Generation das Trauma der ersten Generation
bernimmt und oft gepaart mit eigenen Emotionen und Erfahrungen an die dritte
Das
heit,
die
dritte
Generation
verfgt
ber
ein
ausfhrliches
Wissen
bezglich
der
23
Medien und im familiren Umfeld vermittelt wird. Das Wissen und Verstndnis der
dritten Generation vom Nationalsozialismus und dem Holocaust besteht also aus
die Tatsache, dass diese Generation zeitlich vom Nationalsozialismus und ihrer
jeweiligen Familienvergangenheit distanziert ist, und nach dem Tod der ersten
getrennt wird, ermglicht einen objektiveren bzw. sachlicheren Blick auf ihre
Familienvergangenheit. Freia ist es somit mglich, viel sachlicher mit der NS-
Frauenbildern umzugehen.
Und damit wird die narrative Prmisse verstndlich: Freia, die als
Vertreterin der dritten Generation im Begriff ist, ein Kind auf die Welt zu bringen,
tritt mit dem Tod der Mutter und der Gromutter ihr Erbe als Erinnerungstrgerin
an. Das heit, sie muss sich durch unzhlige Erinnerungsstcke von Mutter und
Gromutter kmpfen und darf bzw. muss nun bestimmen, was von all diesen
sich dazu, ihre Geschichte und die ihrer Familie literarisch festzuhalten und der
vorliegende Text Himmelskrper ist auf der fiktionalen Ebene das Resultat ihrer
ihrer Erinnerungsarbeit auch ihre geschlechtliche Identitt als Frau und Mutter, die
ihr aufgrund ihrer Schwangerschaft zur Frage wurde, und der sie sich ber die
Ich werde mein Argument auf zwei Elemente des Romans sttzen; erstens
auf die Gromutter der Protagonistin Jo und deren Mutter Renate als
Transformationsarbeit von Freia und Paul, nach dem Tod der Groeltern und spter
der Mutter, wonach Freia ihr Erbe als Erinnerungstrgerin antritt und die
hinterfragt, sowie ihre eigene Identitt als Frau und werdende Mutter.
25
In diesem Kapitel werde ich die Figur der Gromutter Johanna Bonitzky und
untersuchen. Hier werde ich mich vor allem darauf konzentrieren, inwieweit sich
Frauenbilder, denen sie einerseits zum Opfer fallen und die sie andererseits auch
und den Tod ihres Spielkameraden Rudi hinter ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau.
So bleibt sie in ihrem Haus, als auch durch ihre Geschichte eingesperrt.
und heit eigentlich Johanna mutiert aber nach dem Krieg zu Jo. Der Grovater, der
als Maximilian unter Hitler in den Krieg zieht wird spter, als beinamputierter
Mann, der vllig auf die Pflege der Gromutter angewiesen ist, nach und nach erst
Max, dann Mxchen. (48) Jo muss den Beinstumpf des Grovaters pflegen und Freia
erinnert
sich,
wie
Grovater
[...]
dann
mit
gespreizten,
sehr
dnnen
weien
Beinen
26
auf dem Rcken im Bett [lag] ein bisschen wie ein Baby, das gewickelt wird. (77)
Freias Grovater ist auf die Frsorge und Pflege seiner Frau angewiesen und wird
von Jo wie ein Klein- bzw. Wickelkind behandelt. Freia erinnert sich, wie sie eine
sa mit einem umgebundenen Ltzchen vor seinem Teller und sah ihr verdrielich
zu. (49) Jo, die hagere Gromutter in ihrem perfekt sitzenden Kostm mit
einzige Mensch [ist], der es wagte dem Vater Peter zu widersprechen. (53) Anhand
[...]das verlorene Bein von Freias Grovater auch auf die Krise der von
Gebieten Europas, doch gab es das weit verbreitete Gefhl, dass die Mnner
als Verteidiger und Versorger der deutschen Frauen und Kinder versagt
Der Krieg und seine Folgen haben eine negative Auswirkung, sowohl auf die Ehe der
Groeltern Jo und Mxchen, als auch auf die der Eltern Renate und Peter. Jo hat das
Gefhl,
dass
die
Mnner,
das
heit
Mxchen,
versagt
hatten,
was
sich
daran
zeigt,
27
dass sie ihm nach der Geburt des ersten und einzigen Kindes im ersten Kriegsjahr
jede Form von Zrtlichkeit, die ber das Einreiben des Beinstumpfes [...] hinausging,
verweigerte. (268) Whrend Jo wie ein Feldmarschall die Vorgnge innerhalb der
Familie diktiert, ist der einstige Maximilian als Mxchen in seiner Rolle als Kleinkind
verschwunden. Die Enkeltochter Freia nimmt die Beziehung der Groeltern wie
folgt wahr:
hatten sie zwei klar voneinander abgegrenzte Rollen [...]. [...] Mxchen hasste
es, von Jo stndig bevormundet und wie ein kleines Kind behandelt zu
wiederum war der Ansicht, dass Mxchen ihre Bemhungen oft erschwerte,
indem er sich noch langsamer und hilfloser anstellte, als er war. (123)
Somit gehren in dieser Familie nicht nur der Zweite Weltkrieg zum familiren
Tischgesprch, sondern er wird auch durch den Ehekrieg der Groeltern fortgesetzt.
Weder Jo noch Mxchen knnen sich mit den Folgen des Krieges abfinden und
whrend Mxchen den Verlust des Krieges und seines Beines betrauert, betrauert Jo
eher den Verlust ihrer Heimatstadt und ihres Wohlstands. Mxchen nimmt es seiner
Frau bel, dass sie durch den Verlust seines Beines und seiner daraus
und Jo verabscheut die Hilflosigkeit und Schwche ihres Mannes und verbelt ihm
sein Versagen als Wehrmachtssoldat. Doch wenn beide vom Krieg sprechen,
verstehen
sie
sich.
In
diesen
Gesprchen
mutiert
Mxchen
fr
kurze
Zeit
wieder
zu
28
Maximilian und Jo wird zu Johanna. Bei diesen Gesprchen vertr[a]gen sich Jo und
Mxchen recht gut und bilde[n] eine gemeinsame Front gegen Renate. (125)
Mit der Amputation seines Beines wurde auch die Mnnlichkeit des Grovaters
gewaltsam entfernt und was nach dem Krieg von dem einst so tapferen, groen
Maximilian brigbleibt, ist ein kastriertes Mxchen. So erinnert sich Freia: Als Max
zu Mxchen wurde, wnschte er sich sehnlichst einen Sohn, aber Jo bekam kein
weiteres Kind mehr. (217) Der gewaltsame Eingriff des Kriegs, und dessen Folgen,
Mxchen, als auch Jo, vertreten sehr konservative Vorstellungen bezglich der Rolle
von Mnnern und Frauen. Diese Vorstellung kommt in der Erziehung der
gemeinsamen Tochter Renate zum Vorschein, die ihr Leben unter anderem damit
Frauenbilds fungiert, wird anhand der Figur Renates verdeutlicht. So wird den
Enkelkindern vermittelt: als Renate schwanger wurde, heirateten sie schnell, denn
ihre Eltern wollten auf keinen Fall ein uneheliches Enkelkind. Und schon gar nicht
zwei. (35)
Freia wird anhand dieser Erinnerungen der Eltern und Groeltern ein sehr
traditionelles und konservatives Bild der Frau vermittelt, die kein uneheliches Kind
bekommt
und
nach
der
Geburt
des
Kindes
ihren
Beruf
aufzugeben
hat.
Und
auch
als
29
Jo den Enkelkindern davon erzhlt, wie sie ihren Grovater kennenlernte, versucht
vermitteln, dass auch von ihr erwartet wird, einen Mann zu heiraten und sich an die
vorgegebenen Rollenmuster zu halten. Meine Gromutter hatte sich, als sie das
Wort heiraten aussprach, zu mir gewandt. Ich guckte in die Luft. (125)
Erinnerungen und Rollenmuster bzw. Vorgaben werden nicht nur anhand erzhlter
Geschichten an die Enkel vermittelt, auch das, was nicht gesagt wird bzw. von den
Bruder den Beinstumpf des Grovaters, d.h. die Verkrperung der Schwche,
Sie mssen so was noch nicht sehen, nicht so, und auch nicht nackt, entfuhr
es Jo, und sie schloss Grovater, der gerade ein Mittagsschlfchen halten
Johanna nutzt die Machtposition aus, die sie innerhalb der Familie einnimmt,
seitdem aus Maximilian Mxchen wurde, um zu kontrollieren, was und auf welche
Art und Weise vom Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen an die Enkelgeneration
vermittelt werden darf. Die Tatsache, dass der Grovater, anhand seiner
verkrpert, verweist [...] auch auf die Bedeutung des Krpers als
Wie ich bereits im vorigen Kapitel erlutert habe, spielen Frauen bezglich
Einerseits leiden und leben Frauen wie Renate und Johanna, unter den vom
Patriarchat erzeugten und auf sie projizierten Frauenbilder, andererseits sind sie
jedoch daran beteiligt, sie zu reproduzieren und produzieren. Da es der Frau schwer
fllt, sich in einem patriarchalischen System ber sich selbst zu definieren, kann dies
Erinnerungen und ist daher gleichzeitig an der Produktion und Reproduktion eines
Themen, die Art und Weise ihrer Interpretation und beeinflusst[...], welche
4
Und
so
wie
wir
in
der
westlichen
Welt
das
Konzept
von
Frieden
unmittelbar
mit
unserem
Konzept
von
Krieg
verbinden,
was
heit,
das
Frieden
als
Abwesenheit
von
Krieg
und
Gewalt
definiert
wird
und
somit
nur
in
Relation
zum
allgemeinen
Verstndnis
von
Krieg
verstanden
werden
kann,
verstehen
wir
oft
relational
zu
anderen
Personen.
31
In ihrem Handeln zeigt sich Jo zwar barsch, herausfordernd, militrisch und harsch,
aber in den Erinnerungen an die Kriegszeit, die sie in ihren perfekt inszenierten
Geschichten an ihre Enkelkinder weitergibt, stellt sie sich den Kindern als naives,
unsicheres Mdchen vor. Die Geschichten bzw. Erinnerungen an frher, die sie zur
abendlichen Stunde ihrer Familie erzhlt, sowie Fotos, die sie den Enkelkindern
zeigt, vermitteln alle ein ganz bestimmtes Bild der Gromutter und malen damit
gleichzeitig ein Bild der Frau, das sie ihrer Enkelin zu vermitteln sucht.
Und ich versuchte mir meine Gromutter vorzustellen. Damals. Ich dachte an
So wie die Ich-Erzhlerin Freia das ihr in der Schule vermittelte Wissen ber den
Nationalsozialismus und den Holocaust nicht mit den Geschichten der Groeltern zu
vereinbaren. Die Gromutter kreiert ein verzerrtes Bild der Frau, ruppig, harsch
und militrisch agierend, aber in ihren Geschichten tritt sie als gutmtig, naiv und
schchtern auf. Der Krieg und seine Folgen haben aus der naiven Johanna eine
harsche Jo gemacht, doch das Frauenbild, das sie bewusst an ihre Enkelin vermittelt,
Beim Flechten der Zpfe, ein Ritual an dem sich Jo, Renate und Freia, und fr
eine
Zeitlang
auch
Paul,
beteiligen,
spricht
Jo
unaufgefordert
von
frher.
Es
ist
32
auffllig, das an diesem Ritual ausschlielich Frauen teilnehmen, wobei die Mnner,
mit der Ausnahme des kleinen Pauls, davon ausgeschlossen bleiben. Das Flechten
Die Zpfe knnen in diesem Zusammenhang als Metapher fr die Verkettung der
einzelnen Generationen fungieren. So wie die Urgromutter Jos Haare kmmte und
eingeschrieben. Dieses an den Krper gebundene Ritual des Flechtens ist weiblich
kodiert, wobei Erinnerungen und Emotionen in den Krper der nchsten Generation
Als vorrangige Erinnerungstrgerin lst Jo, wenn diese zu Besuch ist, ihre
Tochter Renate beim Flechten der Haare ab. Meine Mutter wollte aber ihre Aufgabe
nicht an ihre Mutter abtreten, so dass regelrechte Kmpfe entstanden, wer mir denn
nun die Zpfe flechten durfte. (62) Jo setzt sich gegen ihre Tochter durch und
Wenn Jo sich durchgesetzt hatte, erzhlte sie mir, wie sie ihrer Schwester
Lena
die
Haare
geflochten
hat
und
wie
sie
dann
gemeinsam
zu
Festen
oder
33
gegangen sind. [...] Jo hatte lustige Geschichten aus dieser Zeit parat, die sie
mehr als einmal die glcklichste Zeit in meinem Leben nannte. (62)
Anhand dieser Geschichten wird unverkennbar ausgedrckt, dass Jos Zeit beim
BDM, dem Bund deutscher Mdel, die prgendste Zeit ihres Lebens war. Das ist die
Zeit, in der gewisse, der Zeit entsprechende Rollenerwartungen an die Frau auch an
sie vermittelt wurden. Von der Zeit nach dem Krieg spricht sie nie, das fr sie
Als sie mich spter ins Bett brachte und mir einen Gute-Nacht-Kuss gab,
zeigte sie mir ein Foto, das sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug: Es
zeigte sie mit ihren beiden Schwestern. Sie standen in hellen, rmellosen
Gromutter war jedoch nicht diejenige, die mit keckem Blick neugierig den
Kopf wendete, wie ich zuerst annahm, sondern jenes kleine Mdchen, das
Fotografien nicht wieder. Und das Bild, das der Text von Jo vermittelt, erinnert mehr
Die Widersprchlichkeit Jos offenbart sich Freia anhand des Widerspruchs zwischen
erzhlten Geschichten und der erlebten Realitt. So steht die Grobheit der
Gromutter, die Freia auch und besonders beim Flechten ihrer Zpfe wahrnimmt, in
starkem Kontrast zu den Geschichten und Bildern des jungen, naiven, schchternen
beschrnken sich auf Geschichten des Kriegs, in denen die Gromutter sich selbst
als treu-wartende-Seele inszeniert, die von den Grueltaten der Nazis schockiert
war. Freia, wir waren keine Nazis. Jede gewaltttige Ausschreitung haben wir
abgelehnt. Grob, furchtbar fanden wir das. Vulgr, erklrt Jo ihrer Enkelin. (126)
Jo versichert ihrer Enkelin des Weiteren, dass sie armen jdischen Kindern
gegenber groes Mitleid zeigte, was unter anderem von der Gromutter geschickt
Wunsch zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedes Mal derart dramatisch
schilderte, dass man am Ende fast den Eindruck bekommen konnte, Jo htte
ein KZ befreit. Irgendwie gelang es ihr das Unterlassen einer Handlung zur
Whrend Jos Kriegsgeschichten sich auf die dramatisch und tapfer absolvierte
Flucht aus Gotenhafen, den Verlust ihrer Heimatstadt und ihrer kostbaren Schtze,
sowie die glcklichste Zeit ihres Lebens als junges, naives Mdchen beim BDM und
als verliebte, auf ihren tapferen Soldaten wartende Frau beschrnkt, spricht ihr
Aber mein Grovater sprach nicht oft vom Krieg. [...] meistens berichtete er
nur von diesem und jenem U-Boot, dieser und jener Flakabwehr, vertiefte
5
In
der
berhmten
Bananengeschichte
erzhlt
Jo
ihren
Enkelkindern,
wie
sie
Ende
der
dreiiger
Jahre
in
einem
Lebensmittelgeschft
war
und
einen
jdischen
Jungen
sah,
der
schlecht
gekleidet
und
krnklich
wirkte.
Jo
berichtet,
dass
sie
groes
Mitleid
berfiel,
und
sie
sich
berlegte
ihm
eine
Banane
zu
geben.
Doch
ihre
Angst
erwischt
zu
werden
berwog
und
sie
entschied
sich
letztendlich
dagegen.
(104-105)
35
Der Verlust des Beines und der Verlust der Heimat stehen fr Jo und Mxchen im
so das eigene Leid in ihren Geschichten effektiver zu inszenieren. Von Jo werden die
Wehrmachtssoldaten als Helden bezeichnet, also, wenn jemand ein Held ist, [...]
dann sind es die Wehrmachtssoldaten. (129) Der kritische Blick, der in der
in der Erinnerung der Gromutter keinen Anklang. Die Tatsache, dass auch sie sich
als Soldat, wie etwa den Verlust seines Beines im russischen Winter, ebenso
mythologisierten wie den Verlust von Heimat und Wohlstand durch die
der Familie die Flucht aus dem Osten ermglicht hatte. (Cohen-Pfister 254)
Ihre Geschichten hat Jo perfekt einstudiert, jedes Detail, das sie den Enkeln von der
Vergangenheit erzhlt, ist durchdacht, nichts wird in diesen Geschichten dem Zufall
Die Geschichte ihrer Flucht kannte ich schon auswendig. Wie einen Weg, den
man
sehr
oft
abgeschritten
ist,
kannte
ich
fast
jede
Redewendung,
jede
36
kennzeichneten. (98)
Jeder spielt bei diesen Geschichten eine Rolle und es geht bei diesen Erzhlungen
weniger darum, den Enkeln etwas zu vermitteln, was sie noch nicht ber ihre
Studie Opa war kein Nazi: Das Familiengedchtnis ist [...] eine synthetisierende
linear sein (20). Gerade die fragmentarischen Geschichten bieten den anderen
richtigen Moment eine bestimmte Frage zu stellen bzw. die Geschichte zu ergnzen.
erschreckenden und belastenden Fakten, die ihnen in der Schule ber den
Erzhlungen der Groeltern zu trennen. Aus diesem Grund ist Freia als junges
Mdchen entsetzt darber, dass der bse Russe auf ihren so tapfer kmpfenden
Er ging mutig nach Russland, blieb sogar einen ganzen Winter, anstatt zu
Schnrchen lief, und als Dank dafr schoss man auf ihn. Der Russe musste
Erst als Freia lter wird, beginnt sie die Mrchenstunde der Groeltern mit
kritischeren Augen zu betrachten und erkennt, inwieweit die Groeltern, aber ganz
besonders Jo, die Geschichten so inszeniert, dass sich in der Familie der Konsens
bezglich der schrecklichen Kriegsleiden etabliert, der die Groeltern nicht als
nazitreue Anhnger zeigt, sondern als Opfer, die ungerechterweise alles verloren.
Diese Scharade setzt sich bis zum Tod der Groeltern fort. Freia ist sich als junge
Erinnerungen an damals so wiedergibt, als hole sie diese aus den geheimsten Ecken
Sie tat immer so, als msste sie diesen Satz aus der tiefsten Versenkung ihres
Jo inszeniert sich und Mxchen in diesen Geschichten nicht nur als Opfer, sie
Bilder bernimmt, sich als tugendhafte, friedliche Frau darstellt, die samt Kleinkind
zu
Hause
auf
ihren
tapferen
Soldaten
warten
musste.
Jean
Bethke
Elshtain
erlutert:
38
We in the West are the heirs of a tradition that assumes an affinity between
women and peace, between men and war, a tradition that consists of
war, real men and women - locked in a dense symbioses, perceived as beings
on, in cultural memory and narrative, the personas of Just Warriors and
Affinitt zwischen Frauen und Frieden und Mnnern und Krieg wird von Jo in ihren
den Krieg zieht, beschrnkt sich Johannas geschlechtsspezifische Rolle also auf eine
den tapferen Soldaten ergnzende Rolle, nmlich, der der schnen bzw. guten
Seele.6
Bis zum Tod der Groeltern werden Freia und ihrem Zwillingsbruder Paul
vorenthalten, wer die Groeltern wirklich sind. Jo nutzt das Bild der tugendhaften,
tapfer wartenden Frau zu ihren Gunsten, um ihr wahres Gesicht zu verbergen. Somit
bleiben Jo und Mxchen der Protagonistin im Grunde fremd. Ich hatte an die
hundert alte Fotos meiner Gromutter gesehen, und sie war mir mit jedem Bild
fremder geworden. (104) An der Figur der Gromutter lsst sich erkennen,
inwieweit Frauen the producers and consumers, as well as the objects, of the
6
Friedrich
Schiller
definiert
in
seinem
Werk
ber
Anmut
und
Wrde
(1793)
eine
schne
Seele
als
einen
Menschen,
in
dem
Pflicht
und
Neigung,
Vernunft
und
Sinnlichkeit
in
einem
harmonischen
Verhltnis
miteinander
stehen
und
diese
innere
Harmonie
sich
uerlich
durch
Anmut
und
Wrde
offenbart.
39
myriad cultural products that portray war and violence sind. (Grossmann ix) Die
Widersprchlichkeit Jos bleibt der Ich-Erzhlerin Freia ein Rtsel, das sie
Das Bild, das die Gromutter von sich inszeniert, wird von Freia zwar bis
zum Schluss hier und da angezweifelt, doch widerlegen kann es die Protagonistin
bis zum Tod der Groeltern nicht. Zwar behaupten Jo und Mxchen, dass sie
Gromutter mit der Tterhand die Fliege erschlgt, als der Grovater die
zu dem Vorfall mit der Fliege. Beim Erschlagen einer Fliege in der heimischen
Kche, sieht Freia erstmals das wahre Gesicht der Gromutter. Gutmtigkeit, das
bedeutet so viel wie, keiner Fliege etwas zuleide tun knnen, widerspricht eindeutig
Jos Handlung. Jo kann sehr wohl einer Fliege etwas zuleide tun und ist keineswegs
so gutmtig und naiv, wie sie es in ihren Geschichten und auf den Fotos zu
vermitteln versucht.
Die Augen meiner Gromutter funkelten, [...][ich] bekam [...] Angst vor ihr.
[...] Pltzlich fuhr die Klatsche nieder, [...] und die Fliege fiel leblos [...] auf die
sinken. (89-90)
Die Gefahr, die von der kleinen, hageren Gromutter ausgeht, wird zu ihren
Lebzeiten anhand dieses Vorfalls und nach ihrem Tod, anhand der von Freia
entdeckten
Bcher
wie
zum
Beispiel
Mein
Kampf
offengelegt
und
damit
auch
die
40
Frauenbildern der guten Seele, die wir mit Frieden und Tugendhaftigkeit
When it comes to war and violence, women can be both victims and
agents in history and in their own lives, even if, [...] not under conditions of
Die Opferdarstellungen Jos geraten nach dem Tten der Fliege und dem Auffinden
der Bcher zur Rassenlehre in ein uerst ambivalentes Licht. Die Unfhigkeit bzw.
der Unwille Jos, sich mit ihrer Involvierung im Nationalsozialismus und Holocaust
auseinanderzusetzten und ihre Schuld, die sie als Mitluferin und Ideologietrgerin
auf sich gezogen hat, zu akzeptieren und zu verarbeiten, wird anhand ihrer
zu sein, womit sie gleichzeitig jede Art von Beteiligung einschlielich bloen
(Pucalikov 56)
Johanna Bonitzky ist zu ihren Lebzeiten nicht in der Lage, sich erfolgreich oder auch
und
dem
Holocausts
und
deren
Folgen
setzen
eine
grundlegende
Trauerarbeit
41
voraus, die sich nicht auf die eigenen Leiden beschrnkt, sondern die Opfer der
(Pucalikov 56)
Der Widerwille der Gromutter, sich der Schuldfrage zu stellen, erschliet sich der
Protagonistin, als diese kurz vor dem Tod der Gromutter ahnt, dass Jo ihre
Der Satz ich erinnere mich nicht knnte zur Ausrede werden... (219)
Renate kommt im ersten Kriegsjahr 1939 in Gotenhafen zur Welt. Zur Zeit
der Flucht aus Gotenhafen im Januar 1945, die so oft im heimischen Wohnzimmer in
den Geschichten der Gromutter thematisiert wird, ist Renate fnf Jahre alt.
Wie Jo hat auch Renate Geheimnisse, die auf den Holocaust und Nationalsozialismus
zurckzufhren sind. Die Flucht aus Gotenhafen ist im Falle Renates das
einschlgigste und prgendste Erlebnis ihres Lebens. Der Krieg und seine Folgen
haben auch auf die Ehe der Mutter einen sehr negativen Einfluss, der darauf
zurckzufhren ist, dass Renate ihre tiefe Traumatisierung nicht berwinden kann
und sich als Konsequenz vollkommen in sich zurckzieht. Renate und Peter lebten
jeder in einem Paralleluniversum fr sich, die Groeltern zankten sich ber den
Alltag, Mxchen war ein Muffel, Jo ein Feldmarschall. (226) Doch trotz ihrer
Rolle in Freias Leben. Die tragende Rolle, die Renate bezglich der Vermittlungen
von Erinnerungen einnimmt, lsst sich gleich zu Anfang des Romans erschlieen. So
beginnt der Roman mit den Worten Ich hatte das Foto nicht dabei, was eine
hektische, fast verzweifelte Suche der Ich-Erzhlerin nach dem Foto der Mutter zur
[Ich] sprte [...], dass Trnen in meine Augen getreten waren. Ich lehnte den
Kopf ans Fenster und schaute in den Himmel, suchte ihn unwillkrlich nach
Wolkenatlanten kannte und die ich seit Jahren berall auf der Welt suchte.
(11)
Mit der Suche nach dem nicht aufzufindenden Foto von Renate wird gleich zu
Beginn die jahrlange Suche der Ich-Erzhlerin nach der seltenen Wolkenformation
die Suche nach einem durchsichtigen bzw. transparenten Bild der Mutter und
durchschaubar ist. Und pltzlich rutschte in der nchsten Kurve aus meinem
provisorisch angelegten Wolkenatlas das Bild von Renate heraus. [...] Mich berfiel
unendliche Erleichterung. (13) Anhand der Suche nach dem Foto, auf dem Renate
niedliche lockige Kleinkinder, sondern einmal nur sie selbst: [...]. Sie schaut, so sieht
es
aus,
in
den
Himmel
[...].
(13),
als
auch
nach
der
Wolkenformation
Cirrus
43
Perlucidus, erschliet sich, dass die Protagonistin auf der Suche nach einem
dem durchscheinenden Cirrus, aber ihre Abgrenzung ist die Frage einer
Das Bild, das Freia bisher von Mutter, Gromutter und der Familienvergangenheit
vermittelt wurde, gleicht Cirrus Translucidus, dem Cirrus der zwar lichtdurchlssig
aber nicht blickdurchlssig ist, d.h. zwar Informationen durchsickern lsst, welche
jedoch weder transparent, klar, noch verstndlich sind. Renate und die
das mangelnde Interesse, das beiden entgegengebracht wird. Genau wie Cirrus
Perlucidus ist auch Renate eine durchsichtige, bzw. fast unsichtbare Figur innerhalb
ihrer Familie und bisher hat sich keiner darum bemht, Renate wirklich
kennenzulernen, bzw. ihr Geheimnis zu lften. So begibt sich Freia aufgrund ihrer
Schwangerschaft auf die Suche nach einem transparenten Bild ihrer Mutter und
die Nachwelt festzuhalten. Denn wie die bisher unzulnglichen Beschreibungen von
7
Die
Wolkenformation
Cirrus
Perlucidus
ist
eine
von
Tanja
Dckers
erfundene
in der Figur der Gromutter, als auch die Widersprchlichkeit bezglich der Mutter
Renate war anders: Leise war sie, oft flsterte sie ohne Grund. Sie war sehr
blonden langen Haaren und den blauen Augen, [...] zog sich mglichst
Meist steht Renate am Fenster und starrt hinaus, nimmt wie die Wolkenformation
einen durchsichtigen Charakter ein. Renates Anwesenheit wird vom Rest der
Familie oft nicht wahrgenommen, sie wird bersehen als auch berhrt und von der
und der gemeinsamen Flucht erzhlt, spricht Renate von sich aus nie ber die
Vergangenheit. Sie sch[eint] dennoch die einzige zu sein, die sich fr Publikationen
Flucht aus Ost- und Westpreuen. (98) Wenn Jo den Kindern vom Krieg und der
Flucht berichtet, schweigt Renate meist und schaut aus dem Fenster, wenn sie sich
jedoch in die Erzhlungen der Mutter einmischt, dann weist Jo sie in ihre Grenzen.
Wenn Renate jedoch in diesen Erzhl doch mal vom Krieg- Diskussionen das Wort
ergriff [...], wurde sie meist sofort von Jo oder Mxchen unterbrochen, die meinten,
dieses oder jenes Detail htte sie aber vollkommen falsch wiedergegeben. (98) Die
Tatsache,
dass
Renate
im
Jahre
der
Flucht
erst
fnf
Jahre
alt
war,
fhrt
dazu,
dass
45
Renate von ihren Eltern fr unmndig erklrt wird und nicht wirklich wissen knne,
wie es denn gewesen sei. Mit den Worten: was weit du schon, du warst doch
damals ein Kind, weist Jo Renate in ihre Grenzen und erteilt ihr quasi Rede- und
Mitteilungsverbot. (128)
Sachbcher -. (130)
Die Tatsache, dass Jo sich weigert ihre Schuld zu akzeptieren bzw. einzugestehen,
steht in starkem Kontrast zu Renate, die sich im Vergleich zur Gromutter nicht von
ihrer Schuld befreien kann. Was die Gromutter an Schuld zurckweist oder schn
zu reden versteht, verinnerlicht Renate und verbleibt so am Ende allein mit der
Schuld, die sie stellvertretend fr ihre Eltern auf sich geladen hat.
Kurz vor dem Tod der Groeltern, kommt Freia endlich hinter das so schwer
gehtete Geheimnis ihrer Mutter. Jo, die ihre Enkelin Freia fr ihre Schwester Lena
hlt, erzhlt, was sich im Januar 1945 wirklich zugetragen hat und wie die drei
Frauen sich in letzter Minute auf das Minensuchboot Theodor retten konnten und
somit dem Tod auf der Wilhelm Gustloff entkamen. Jo erklrt ihrer Enkelin Freia:
[...] aber pltzlich stand neben uns noch eine andere Dame...ich kannte
sie...Frau Hunstein mit ihrem Sohn Rudolf, den alle Rudi nannten... [...] der
Rudi hatte knallrote Haare und war exakt so alt wie Renate ... (248)
An dieser Stelle zeigt sich, inwieweit die Groeltern wirklich als Ideologietrger der
Nationalsozialisten
fungierten.
Da
Renate
zum
Zeitpunkt
der
Flucht
erst
fnf
Jahre
46
alt ist, kann man das Verhalten des jungen Mdchens und die Denunziation der
verstehen, d.h. Renates Handeln ist ein Produkt Jos Erziehung und der Vermittlung
von Idealen, an die Jo glaubt. Warum habe ich das wohl gesagt, wer hat denn
zu Hause Strichlisten ber die Nachbarn gefhrt und mich dazu angehalten, meine
Spielkameraden... (251) Die Ideologie der Gromutter Jo wird direkt auf die
fnfjhrige Mutter Renate bertragen, d.h. die Mutter handelt ganz eindeutig nicht
sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Doch Jo bleibt bis zum Tod unfhig die
ihrer Tochter entgegen: Ich erinnere mich nicht! schrie Jo auf einmal. (251) Die
schweigt ber, bzw. erinnert sich pltzlich nicht mehr an ihre eigene Schuld, die sie
sich weder eingestehen kann noch mchte. So setzt Jo ihre Berichterstattung fort
Da rief Natilein pltzlich...vorher war sie den ganzen Tag still vor Angst
gewesen...also pltzlich rief die Kleine richtig laut: Die ham gar nich mehr
den Gru gemacht. Schon ganz lange nicht mehr. Und Nati streckte ihren
dnnen kleinen Arm sehr gerade nach vorn... [...] nie wieder haben wir sie
Nach langem Bohren und Suchen kommt Freia endlich hinter das lang gehtete
Umfeld. Freia hat durch die Schwangerschaft mit belkeit und Schmerzen zu
kmpfen, die in ihren Alltag und ihren Handlungsspielraum massiv eingreifen und
sie zwingen mehr Zeit bei ihrer Mutter und Gromutter auf der Couch zu
verbringen. Die marginalisierte Rolle, die sie als schwangere Frau einnimmt,
Tabuthema verstanden wurde. ber den Untergang der Wilhelm Gustloff wurde
lange Zeit in den Medien nicht berichtet. Die konfliktgeladene Beziehung zwischen
der Erinnerung der Opfer des Nationalsozialismus und deutschen Opfern des
Zweiten Weltkriegs fhrt dazu, dass die Erinnerungen an deutsche Opfer lange Zeit
Frauen primr in den privaten Raum abgedrngt wurden, findet in eben diesem
zwischen Gromutter, Mutter und Enkelin statt. Renate hat ihren Spielgefhrten
Rudi samt Familie denunziert, was ihr und ihrer Familie das Leben rettet, den
kleinen Rudi und seiner Familie jedoch das Leben kostet. Das Geheimnis des
Fluchtverlaufs aus Gotenhafen verdeutlicht den Kontrast zwischen dem Erlebnis der
Gromutter und Mutter. Whrend fr Jo das Fluchterlebnis aufgrund der Klte, der
Angst und dem Verlust der Heimat zwar ein unerfreuliches und denkwrdiges
Charakter an. Die denkwrdigste Zeit in Johannas Leben bleibt ihre Zeit als junges
Mdchen beim BDM, als sie und ihre Schwester sich gegenseitig die Zpfe flochten.
Fr Renate ist das Fluchterlebnis das prgendste Moment ihres Lebens und ihr
Selbstmord ist unter anderem ein Resultat einer sie lebenslangen belastenden
Renates Selbstmord stellt nur den Endpunkt ihrer durch das gravierendste
nationalsozialistische Zeit von Seiten ihrer Eltern und deren Unwillen, die
Das bedeutet, dass Renate, obwohl sie zum Zeitpunkt der Denunziation der
Nachbarsfamilie erst fnf Jahre alt war, die Schuld ihrer Eltern auf sich ldt und sich
fr ihre Tat, die aus ihrer Erziehung resultierte, sich ein Leben lang schuldig fhlt.
Ihre Tat, die ihr, Mutter und Tante zwar das Leben rettet, macht sie jedoch fr den
Rest ihres Lebens zur Gefangenen einer Schuld, welche durch die Uneinsichtigkeit
ihrer Eltern noch verstrkt wird. So wie Renates Handeln eine Konsequenz der
mtterlichen Erziehung war, so ldt sie anschlieend die Schuld ihrer Eltern auf
Des Weiteren ist es unwesentlich, wie viele Bcher Renate ber den
Untergang
der
Wilhelm
Gustloff
liest,
wie
viel
Wissen
sie
ber
dieses
Thema
49
sammelt, sie bleibt in den Augen der Groeltern ein unmndiges Kind und in ihren
Augen bleibt sie schuldig. Whrend Jo und Mxchen ihre Vergangenheit und ihre
Renate, wenn auch auf andere Weise, eine Gefangene ihrer Vergangenheit ihres
Schuldigwerdens und ihrer Unmndigkeit. Es ist nicht Renate, die von ihrem
traumatischen Erlebnis berichtet, es ist immer Jo, die erzhlt und Renate schweigt.
Jo spricht bis zu ihrem Tod fr Renate mit; sie nimmt also im wahrsten Sinne des
Wortes die Rolle des Vormunds ein. Sobald das Geheimnis der Mutter, aufgrund des
Selbstmordabsichten deutlich heraus und Freia frchtet um das Leben ihrer Mutter,
die wie versteinert und lange schweigend am Fenster steht und sich nicht vom Fleck
rhren mchte.
Nein, ich bleibe hier. Ich mchte hier stehenbleiben und hinaussehen. Der
Sonnenuntergang, wie er alles mit sich reit. Dieses mrderische Rot, dieses
verlogene Orange, das gierige Gelb. Jeden Tag wird die Welt zertrmmert.[...]
Die lange verborgene Wahrheit, dass Renate ihre Schuld nicht verarbeiten kann,
bzw. nicht verkraften kann, fhrt dazu, dass sich ihr vergangenes Trauma und somit
Die jugendliche Renate hat ein Zusammentreffen mit Rudolf, er [ist] genauso alt wie
sie, fnfzehn, hat[...] rote, kurze Haare und berall in seinem Jungengesicht
Spielkameraden Rudi und ruft das von ihr ungewollte und verdrngte
Schuldigwerden in Gotenhafen wieder hervor. Als der junge Rudi die naive Renate
eines Nachmittags ksst, werden die beiden von ihrer Tante Lena dabei beobachtet.
Januar 1955 angezeigt. Rudolf wurde am nchsten Morgen gefeuert. (35) Renate
fhlt sich stellvertretend fr ihre Mutter und Tante wiederholt schuldig, was darauf
hinweist, dass eine unverarbeitete Schuld sich so lange wiederholt bis sie
verarbeitet wird. Die junge Renate steht zu diesem Zeitpunkt unter der Obhut ihrer
Tante Lena, zur Zeit der Flucht hingegen stand sie unter der Obhut ihrer Mutter.
Tante Lena,
[...]legte Renate fr einen Moment eine Hand auf den Kopf, als wollte sie ihn
Die groe, schwere Hand von Tante Lena, die auf Renates Kopf ruht, knnte
stellvertretend fr die schwere Schuld stehen, die Renate sich von ihrer Familie hat
aufbrden lassen. Die schwere Hand auf Renates Haupt beschreibt die Ideologien
und Einstellungen von Mutter und Tante, die auf Renate einwirken und aufgrund
welcher sie sich widerholt schuldig fhlt. Wegen des Kusses, den der
fnfzehnjhrige Rudi der naiven Renate auf den Mund drckt, gegen den sie aber
nichts einzuwenden hat, wird der junge Mann gefeuert. Der fnfjhrige Rudi verliert
bereits in sehr jungen Jahren als Wahrheiten vermittelt wurden. Als der jugendliche
Rudi seine Stelle verliert, nachdem er Renate geksst hat, da diese aufgrund der
Erziehung von Mutter und Tante von dieser Berhrung verngstigt wurde und sogar
ihrer Tat wieder hoch. Durch die Erinnerungstrger, d.h. Mutter Jo und Tante Lena,
Lena in Renates Krper eingeschrieben, so wie sie spter auch anhand der Zpfe in
[...] [Renate] wrde nicht wissen, wie sich die Haut eines Menschen anfhlt,
der eine Berhrung erhlt [...] abgesehen von den ritualhaften Gute-Nacht-
Kssen, die sie mit ihren Eltern austauschte, und dem freundschaftlichen
Klaps, den Tante Lena ihr manchmal gab. Sie wrde noch nie einen gesunden
schon der Beinstumpf des Grovaters, auf die Bedeutung des Krpers als Medium
die einzigen Berhrungen, die Renate vor Rudis Kuss erfhrt, von Jo und Renate
stammen,
und
ihr
Krper
bis
zu
dem
Zeitpunkt
nur
als
Erinnerungsmedium
52
fungierte, glaubt sie von der mnnlichen Berhrung schwanger geworden zu sein.
anhand eines Schlsselereignisses, wie bei Jo mit der Fliege. Jo erschlgt die Fliege
mit ihrer Tterhand, Lena verscheucht lediglich die Fliege, die sich ihr in den Weg
stellt. Parallel dazu muss der fnfjhrige Rudi sterben, und der fnfzehnjhrige Rudi
wird aus dem Leben Renates verscheucht. In der Obhut und unter der Kontrolle von
Jo und Lena macht sich Renate schuldig und kommt ihr Leben lang mit dieser Schuld
nicht zurecht.
Das Bild der Frau, das von der Groelterngeneration an sie vermittelt wird,
prgt Renates Leben bzw. hlt sie auf die selbe Art und Weise gefangen, wie ihre
nachjagt, bleibt Renate an ein Fenster gefesselt, von welchem aus sie das Treiben
der Welt beobachtet, ohne daran teilzunehmen. Am Rand dieser Stadt konnte
meine Mutter, wenn sie allein am Fenster stand, auf die engstehenden Tannen
schauen und sich etwas vorstellen, das vielleicht dahinter liegen knnte. (36) Was
wirklich dahinter liegt wei Renate jedoch nicht, da sie in ihrer Rolle als Hausfrau
und Mutter nur sehr selten aus dem heimischen Gefngnis ausbrechen kann. Von
der Kontrolle der Groeltern fllt Renate nun in eine erneute Abhngigkeit. Sie
begibt sich von einem Gefngnis ins nchste und wird von ihrer Mutter als auch von
der
seltenen
Wolkenformation
Cirrus
Perlucidus
ein.
So
beschreibt
Freia
Renate
als
53
[...] meine unauffllige Mutter, die die Fhigkeit besa zu verschwinden, ebenso die
Renate luft als ltere Frau Rudi noch einmal ber den Weg. Sie weiht ihre
Tochter Freia in ihr Geheimnis ein, als sie ihr erzhlt: Weit du, ich habe ihn
Renate, die sonst meistens schwieg und ihrer Tochter nur selten Einzelheiten aus
ihrem Leben mitteilte, beichtet Freia, dass sie Rudis Kuss bereits verdrngt hatte.
Die Verdrngung des Kusses, lsst darauf schlieen, dass Renate auch den
Fluchtverlauf und die Denunzierung des fnfjhrigen Rudis verdrngt hat. Aus
diesem Grund ist es Jo, die Freia vom dunklen Geheimnis der Mutter und dem
Sie hatte Rudolf vor zwei Monaten, auf der Beerdigung von Onkel Kurt,
wiedergesehen. Meine Mutter hatte die Geschichte, wie sie meinte, komplett
verdrngt, aber der ltere Herr, den sie Blumen ins Grab werfen sah, kam ihr
Als Renate den lteren Rudi auf der Beerdigung ihres Onkels wiedersieht, erinnert
sie sich an den Kuss und ihre verdrngte Geschichte kommt wieder hoch. In einem
ruhigen Moment zwischen Mutter und Tochter erzhlt Renate Freia von ihrem
Zusammenreffen und ihren verdrngten Gefhlen. Es ist wieder Freia, die aufgrund
diesen
Momenten
meist
auerhalb
des
huslichen
Bereichs.
Der
nun
erwachsene
54
und verwitwete Rudi mchte Renate wiedersehen und sie verabreden sich zu Kaffee
und Kuchen, doch Renate kann sich der Geschichte und auch Rudi nicht stellen und
sagt in letzter Minute ab. Pltzlich weinte meine Mutter. [...] Ich kann da nicht
hingehen ... Ich kann da nicht hingehen [...]. (279) Das traumatische Erlebnis bleibt
ein Erlebnis, dem sich Renate nicht stellen kann. Sie nutzt ihre Rolle als Mutter, als
Vorwand Rudi nicht wiedersehen zu mssen. Sie erzhlt ihm, dass ihre Tochter
schwanger und auf ihre Hilfe angewiesen sei und sie diese unter keinen Umstnden
alleine lassen knne. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagte meine Mutter noch
zu Rudolf, und das war Lge Nummer drei. (280) Freia versteht, dass hinter der
Rudifigur fr Renate mehr steckt als nur ein Jugendschwarm, der sie einmal geksst
hat. Freia versteht, dass es kein Zufall sein kann, dass Renate ein weiteres Mal
diesem Rudi ber den Weg luft und dass ihr Bruder mit Zweitnamen ebenfalls Rudi
bzw. Rudolf heit. Renate, der Name Rudolf, ist das wirklich Zufall, ich meine, du
denkst an diesen Mann seit ber dreiig Jahren, dieser eine Kuss damals, ich meine
... . (277) Die Geschichte wiederholt sich und so begegnet Renate wiederholt Rudi,
der immer im selben Alter ist wie sie und der sie immer an den fnfjhrigen Rudi
Wissen an ihre Tochter. Beim Haarflechten sprt Freia den Gemtszustand der
Mutter. Renate verbringt viel Zeit damit, ihrer jungen Tochter die Haare zu kmmen
und ihr ber das Haar zu streicheln. Durch ihr Schweigen vermittelt Renate ihrer
Tochter Freia, dass sie ein Geheimnis mit sich herumtrgt, von dem eigentlich nur
die
Gromutter
Genaueres
wei.
Wenn
sie
mir
die
Zpfe
flocht,
hielt
sie
die
Zeit
an
55
und schwieg. (66) Das Schweigen Renates vermittelt Freia, dass ihre Mutter
traumatisiert wurde und das andauernde Streicheln der Haare, vermittelt ihr, dass
ihre Mutter von ihrem Vater oft allein gelassen wird und sich einsam fhlt. Diese
vermittelt, an dem sich auch Jo oft beteiligt. Whrend Jo gerne von ihrer Zeit beim
BDM spricht und von der schweren Flucht aus Gotenhafen, schweigt Renate. Jo
plappert freudig vor sich hin, inszeniert sich gekonnt als Opfer und hat ein
Vergangenheit. Sie verlangt nach dem Gehr der Familienmitglieder und nach der
interessiert sich auer Freia auch niemand fr Renate. Die tiefe Traumatisierung,
die Renate auf ihrer Flucht erfahren hat, drckt sich in ihrem Schweigen und ihrer
Unsichtbarkeit aus. Die langen Zpfe von Freia erlauben es Renate, sich jemandem
mitzuteilen und jemandem nahe zu sein. Damals konnte man dir noch nahe sein,
weil du Zpfe hattest. Wie lange haben wir da immer zusammen geklnt, wenn ich
dir die Dinger geflochten habe!, erinnert sich Renate. (276) Doch nachdem sich
Freia die Zpfe abrupt entfernt, weil Peter dem Bruder Paul nicht gestatten wollte
auch Zpfe zu tragen, verliert Renate mit den Zpfen den Zugang zu ihrer Tochter.
Paul
trug
fr
eine
Weile,
wie
seine
Zwillingsschwester
Freia,
auch
Zpfe.
Das
56
Kopfhute einzuschreiben. Doch das Glck whrte nicht lang und Peter schritt ein,
um seinen Sohn vom weiblichen Ritual des Haareflechtens zu befreien. Nicht nur
Geschichten und Emotionen wurden beim Flechten und Kmmen der Haare an die
Kinderkopfhaut eingeschrieben. Aus diesem Grund ist Peter auch so erbost darber,
dass Jo und Renate den gemeinsamen Sohn in dieses weibliche Ritual miteinbezogen
hatten.
Und Peter schimpfte mit Renate und Jo, dass sie ihn niemals gefragt htten,
was er denn von den Zpfen seines Sohnes hielte. Jeder schimpfte mit jedem.
Und Paul und ich trauerten den aufregenden Geschichten nach, die wir jetzt
Mit dem Entfernen der Zpfe seines Sohnes entfernt er diesen auch vom
seine Zpfe hineinflechten. Freia, die beobachtet, wie der Vater die Zpfe gewaltsam
entfernt, versteht von diesem Moment an, dass es einen Unterschied zwischen ihr
und ihrem Bruder geben muss und dass sie und Paul von nun an auf die
Als Freia in die Pubertt kommt, versucht Renate erneut, einen besonderen
Zugang zu ihrer Tochter zu finden. Renate versucht, ihre pubertierende Tochter mit
Geschlechterrollen bekannt zu machen und ruft sie des fteren in die Kche, damit
Freia ihr dann beim Abwasch helfen kann oder beim Kochen zusehen darf. Paul
Eines Tages prophezeite mir meine Mutter, als sie mich zum Abwaschen in
die Kche bat, obwohl Paul weiter Radio hren durfte, dass mein Bruder sich
zurckziehen wrde denn das machten alle Jungen in diesem Alter. (72)
Es ist Renate wichtig, ihrer Tochter auf dem jeweiligen Geschlecht basierenden
diesem Grund verstrkt nach Freias Nhe, sobald diese die geschlechtliche Reife
erlangt. Renate versucht Freia in die Welt der Frau einzufhren, doch Freia wehrt
sich mit Hnden und Fen gegen diese Indoktrinierung. Sie weist die Nhe der
Mutter und die auf sie projizierten Frauenbilder zurck. Die Mutter reagiert auf das
Zurckweisung, mit einer Ausweitung ihrer Sammelwut. Alles, was sich Renate in
den Weg legt, wird aufgehoben. In dieser Zeit brach sie richtig aus: die Sammelwut
meiner Mutter. (74) Jedes Detail, jeden Zettel, jede kleine Kritzelei ihrer Kinder
hebt Renate sorgfltig auf, als wolle sie die Zeit anhalten. Der Kreislauf des Lebens,
davon, dass sie mit der Zeit und der Geschichte so verbunden ist wie auch mit der
Zukunft der nchsten Generation, belastet und schmerzt Renate. So wie Freia
aufgrund ihrer Schwangerschaft Teil der Geschichte wird, ist es auch die Mutter, die
anhand ihrer Kinder die Geschichte fortschreibt, Teil einer Geschichte, die
Frauen nehmen die Verkettung in der Familie und somit in der Geschichte
Um dem Schmerz der Generativitt entgegenzuwirken, versucht Renate Zeit an- und
Gegenstnde festzuhalten. Auch die Zpfe, die Freia sich abschnitt, hebt die Mutter
wortlos auf. Die Zpfe, ein Symbol fr die Verkettung der einzelnen Generationen
stehengeblieben: Nur Fotos von uns Kindern und von meinen Eltern aus der Zeit
ihrer Hochzeit waren auf einem Stck bordeauxfarbenen Filz festgepinnt. (66)
Nachdem Freia von der Wilhelm Gustloff erfhrt und von der Tat ihrer Mutter,
Gemeinsam fahren Mutter und Tochter nach Gdynia und Freia hofft, weitere
Einsichten in den Charakter und das Leben ihrer Mutter zu ergattern. Der einzige
Mensch auer Freia, den Groeltern und Tante Lena, der von dem Fluchtverlauf
wusste war Freias Onkel Kazimierz. Kazimierz war der einzige, bis auf meine
Eltern, der Bescheid wusste, Freia. (300) Die Groeltern verabscheuten Kazimierz,
der wie die Mutter auch Selbstmord begann, weil sie Angst [hatten], dass er [...]
[Renate] fern von ihrem Zugriff Dinge erzhlt, die [sie] gegen sie aufwiegeln
knnten. (300) Und als Renate sich ihrer Tochter endlich anvertraut, als Freia
endlich die Gelegenheit bekommt, ihrer Mutter all die Fragen zu stellen, auf die sie
nie eine Antwort bekommen oder finden konnte, whrend die Mutter aufgrund
pltzlich die Wolkenformation Cirrus Perlucidus. Minuten spter ging mir auf, dass
dies der Ort war, in dessen Nhe [...] die Gustloff gesunken war. [...] die Gustloff
[die] nie gehoben worden war und unter den vielen Totenkpfen in ihrem Wrack,
[...] auch Rudis war. (306) Nach der Geburt ihrer Enkelin Aino nimmt sich Renate,
die nun als Gromutter in die Rolle von Jo geschlpft ist, das Leben, entsorgt jedoch
vor ihrem Tod alle von ihr gehorteten Erinnerungsstcke. Somit beendet sie ihre
Rolle als Erinnerungstrgerin einer Erinnerung, die fr sie nicht zu verkraften war.
der Stunde der Dmmerung. Sie hatte einfach alles weggeworfen, was sie
besa. Das Zimmer war leer, ihre Schrnke ausgerumt. Die Fotoalben,
Kisten und Kartons an der Haustr hatten meinen Vater schon stutzig
gemacht. Nur sie allein lag in einem leuchtend roten Kleid auf dem ordentlich
Renate, die ihr Leben lang nichts wegwerfen konnte, die sogar Jos Gebiss
aufgehoben hatte, entfernt sich nicht nur selbst aus der Position der
den keiner wahrnimmt. Eine geistige Hlle, die in ihrem Haus vereinsamt und von
ihrer Vergangenheit gefangen genommen wurde. Es ist kein Zufall, dass Peter
Renates toten Krper zur Stunde der Dmmerung auffindet, da Renate selbst
Dmmerung,
ist
ein
Zustand
zwischen
hell
und
dunkel,
zwischen
Leben
und
Tod.
60
Renate, wie auch die Dmmerung, oszilliert stndig zwischen Leben und Tod. Zu
Lebzeiten zweifelte sie an ihrer Lebensberechtigung, doch noch nach ihrem Tod
Erfahrungen einer Generation, die innerhalb ihrer Familie oft mit Erzhlungen von
Erlebnissen und Ereignissen konfrontiert werden, die lange vor ihrer Zeit bzw. ihrer
Kpfen der dritten Generation umher und beeinflussen ihre Erfahrungen und ihre
Realitt. Alles, was diese Generation nun erlebt, steht unter dem Einfluss und dem
Ich bin so weit fortgegangen von zu Hause, und Renate lebt nicht mehr. Und
trotzdem: An all das, was passiert ist, denke ich tglich eine Endlosschleife
in meinem Kopf. Alles was ich male, steht unter diesem Bann oder Fluch. [...]
somit die Postmemories aus ihrem Kopf und auf Papier zu schaffen. Ich mchte
hier in Frieden leben und Jacques nicht immer mit unserer Geschichte belasten, und
In diesem Kapitel mchte ich die Ich-Erzhlerin Freia nher untersuchen und
errtern, inwieweit sie im Vergleich zu ihrer Mutter und Gromutter einen viel
distanzierteren Blick, das heit einen Blick aus grerer zeitlicher und rumlicher
Distanz, auf die Geschichte werfen kann und inwieweit sie ihre Identitt als Frau
verkrpert in vielerlei Hinsicht eine viel emanzipiertere Frau als ihre Mutter und
Gromutter, was aber nicht heit, dass sie sich ganz von den im patriarchalischen
System innewohnenden Frauenbildern befreien kann und diese nicht auch bewusst
Geschichte nach dem Tod der Groeltern und letztlich nach dem Selbstmord der
Laufe der Geschichte kritisch ihrer Identitt als Frau und Mutter und somit dem
Ausgangspunkt der Erzhlung. Die Geschichte ihrer Familie, die sie gemeinsam mit
ihrem Zwillingsbruder Paul schreibt, nhert sich gegen Ende dem Ausgangspunkt
der Geschichte. Die Erinnerungsarbeit Himmelskrper beginnt auf einer Zugreise der
verstanden werden kann. Freia taucht auf ihrer Suche in ihre Vergangenheit ein und
Gromutter und Mutter litten und begutachtet, inwieweit diese Frauenbilder von
sollten. Was der Leser dieser Erinnerungsarbeit derart ber Renate und Jo erfhrt,
wird durch die Protagonistin Freia gefiltert. Wir lernen Renate und Jo anhand einer
jungen Frau kennen, die ihr erstes Kind erwartet und vor kurzem die eigene Mutter
und Gromutter verloren hat und die fr ihre Tochter Aino nun eine kritische
Die Suche der Ich-Erzhlerin nach der seltenen, durchsichtigen und lange
die Suche Freias nach einer Antwort auf die Frage: Wer ist die Person, die sich
hinter der Figur meiner Mutter verbirgt bzw. was fr eine Mutter werde ich meinem
Kind sein? Der Ausgang dieser Suche ist die Schwangerschaft der dreiigjhrigen
Protagonistin Freia Sandmann. Das Bedrfnis Freias nach einer transparenten, klar
Mutter und Gromutter wird durch ihre Schwangerschaft hervorgerufen. Nach dem
Tod der Gromutter, versteht Freia, dass ihre Tochter Aino nie die groelterlichen
Geschichten hren wird. Und nach dem Selbstmord Renates, liegt es an Freia, die
Der Gedanke, dass Renate meine Mutter ist, kam mir unwirklich vor. Mit dem
Bild einer Mutter verband ich eine laute, herrische Person, von der man
abhngig ist und gegen die man sich gleichzeitig auflehnt. Mutter: Das ist eine
Das Bild der Mutter, das Freia hier beschreibt, erinnert an die herrische,
kontrollierende
Jo.
Renate
verkrpert
in
vielerlei
Hinsicht
das
genaue
Gegenteil
der
63
lauten und barschen Gromutter. Sie ist eine leise, unscheinbare, abwesende Frau,
die den Tag ber vereinsamt aus dem Fenster schaut. Aufgrund ihrer
Schwangerschaft beschftigt sich Freia ausgiebiger mit ihrer eigenen Mutter und
Gromutter und deren Rolle, die sie als Mutter und Ehefrau zu spielen hatten. Freia
hat das Bedrfnis Jo und Renate besser kennenzulernen, um sich auf ihre zuknftige
Rolle als Mutter vorzubereiten, wohlwissend, dass sie mit der Ankunft der vierten
Ungereimtheiten in den Geschichten der Groeltern, das Schweigen der Mutter und
ihre tiefe Traumatisierung, sowie die Lgen, die innerhalb der Familie kursieren,
sind Freia mehr denn je ein Dorn im Auge, fr die sie Antworten und Erklrungen
sucht.
Seitdem ich also wei, dass ich selbst Mutter werde, muss ich sehr oft an
Renate und auch an Jo denken. [...] Als htte mit meiner Schwangerschaft eine
Art Wettlauf mit der Zeit begonnen, in der ich noch offene Fragen
Ihre Schwangerschaft fhrt Freia vor Augen, dass sie mit der Ankunft der vierten
wird, der sie lange Zeit skeptisch gegenberstand. Pltzlich war ich Teil einer
langen Kette, einer Verbindung, eines Konstrukts, das mir eigentlich immer suspekt
gewesen war. (26) Dem Konstrukt der Familie steht Freia aufgrund der
gegenber. Renate und Peter war irgendwann aufgegangen, dass wir vier eigentlich
wie
einander
fremde
Hotelgste
unter
einem
Dach
wohnten
[...].
(233)
Das
64
der Frau sind Freia suspekt, seitdem sie erfahren musste, dass ihr Zwillingsbruder
Und letztlich steht Freia, aufgrund der Lgen und Geheimnisse ihrer Gromutter
und Mutter, der Geschichte skeptisch gegenber. Freia versteht, dass Erinnerungen
konstruiert werden und mehr ber die erinnernde Person und deren Gegenwart
Erzhlungen. Auf vielerlei Wegen hat Freia versucht, sich gegen diese Konstrukte
zur Wehr zu setzen, sich von dieser Verkettung zu befreien. In dem Sinne ist Freia
die einzige Frau ihrer Familie, die studiert hat und ein uneheliches Kind zur Welt
bringt (26), des Weiteren hat sie eine Glatze und ist Wissenschaftlerin. Ganz
eindeutig hat Freia versucht, sich gegen die Frauenbilder zur Wehr zu setzen, die
von der patriarchalischen Gesellschaft auf sie projiziert werden und die ihr von
Gromutter und Mutter vermittelt wurden. Ihre Mutter Renate hat nach der Geburt
der Zwillinge ihren Beruf aufgegeben und war von dem Zeitpunkt an nur noch
Hausfrau und Mutter. Fr Mxchen und Jo war klar, dass Renate zwar Abitur
machen durfte, doch sollte sie nicht noch obendrein, wie ihr Vater meinte, auf die
Bereits als junges Mdchen, noch bevor sich die Zwillinge Paul und Freia mit
auerehelichen
Abenteuern
ihres
Vaters,
der
ihr
erklrt,
dass
wenn
ein
Ehemann
65
und eine Ehefrau sich lieben, sie das tun, um Kinder zu bekommen, wenn aber ein
Mann und eine Frau sich lieben, dann gibts einen Regenbogen. (42) Freia wird
schnell bewusst, dass ihre Mutter, als Gefangene ihrer Rolle als Hausfrau und
weiligeres Leben hat als Peter. Whrend Renate im Haus vereinsamt, treibt sich
Peter mit geheimnisvollen Geistern (42) durch den Wald und amsiert sich. Wie
so oft habe ich sie beobachtet und mich gefragt, wo sie eigentlich gerade ist. Wo, in
welcher Zeit und mit wem? (36) Die stille Vereinsamung und Isolation der Mutter
Fremdgehen des Vaters, sowie seine laute, aufdringliche und unsensible Art dessen
geschlechtlichen Reife bringen fr Freia eine Art Entzauberung der Welt mit sich.
Die Geschichten der Groeltern vom Krieg und der Flucht nehmen in ihren Augen
einen anderen Charakter an. Whrend Opa und Oma in den Augen der jungen Freia
eindeutig Opfer einer schrecklichen und ungerechten Situation, die sich Krieg
nannte, wurden (78-79), begreift die erwachsene Freia wie lckenhaft, fehlerhaft,
zusammenhangslos und einseitig die Geschichten der Groeltern doch sind und wie
manipulieren wei. Je lter Freia wird, desto lter werden auch die Groeltern,
denen es mit der Zeit schwerer fllt, ihre nazi-deutsche Ideologie zu verharmlosen
bzw. zu verleugnen. Freia ist entsetzt, als sie mit fast achtzehn Jahren ihren
gesprochen. (187)
Auch die Mutterfigur Renate, die in den Augen der Ich-Erzhlerin lange Zeit fr
langweilig und uninteressant gilt, die sie glaubt in- und auswendig zu kennen, ist
nicht, was sie in den Kinderaugen einmal zu sein schien. Freia erkennt erst als
erwachsene Frau das volle Ausma der Komplexitt und Traumatisierung ihrer
Mutter. Aber pltzlich, alle sieben Jahre einmal, konnte sie sich vllig verndern
und dann klter und gnadenloser sein als wir alle. (284) Renate versteckt sich
und Mutter, doch hinter diesem Bild steckt mehr als einst von Freia vermutet. Und
Peter, damals das groe Vorbild betrgt und vernachlssigt Renate nicht etwa mit
nachts im Wald trifft. Spter einmal wrden dieser Wald, dieser See und dieser
Himmel von gefallenen Engeln, einst Elfen und dann nach Schwei riechenden
Frauen, bevlkert sein, von viel zu vielen Gestank, Gerchen. (69) Auch zu Paul,
Freias Zwillingsbruder, verndert sich ihre Beziehung. Als Kinder fhlen sich Paul
und Freia wie ein und dieselbe Person, teilen alles miteinander, bis zum Zeitpunkt
der geschlechtlichen Reife. Mein Bruder und ich, wir waren flssig. Stndig
oszillierten wir zwischen Mutter und Vater, zwischen drinnen und drauen, der
Stadt
und
dem
Wald,
mit
und
gegen-
einander,
unruhig,
jung,
formlos.
(16)
Als
67
oszillieren die Kinder zwischen dem, was als traditionell mnnlich bzw. weiblich
verstanden wird. Paul und Freia empfinden keinen Unterschied zwischen sich und
wundern sich darber, was an ihnen Paul zum Jungen und Freia zum Mdchen
macht. Dass wir ein Junge und ein Mdchen waren und dies ein groer
Unterschied wre, kam Paul und mir damals nicht in den Sinn. Wir hatten die
gleiche Schuhgre und konnten voneinander anziehen, was wir wollten. (69) Was
genau den Unterschied zwischen Mnnern und Frauen ausmacht, basiert auf
Ihnen ist bewusst, dass es, abgesehen von den Geschlechtsorganen, noch einen
weiteren Unterschied geben muss, doch da sie diesen Unterschied nicht am eigenen
Wir sahen einander so hnlich und waren doch ein Junge und ein Mdchen -
was auch immer das genau bedeutete. Es gab den Unterschied, dass Paul
weiter pinkeln konnte als ich, aber wieso behaupteten die Erwachsenen,
schon beim Anblick unserer Gesichter zu wissen, wer das Mdchen und wer
bedeuten, kommt erst mit dem Einsetzen der Pubertt. Leider kndigten sich bald
unbersehbare Anzeichen dafr an, dass es mir wirklich beschieden war, eine Frau
zu werden. (71) Freia lehnt die Weiblichkeitsbilder, die ihr die Mutter zu
Giesler, dass der Roman [...] gleichzeitig vor[fhrt], dass Gender selbst ein Produkt
kultureller Erinnerung und Traditionsbildung ist. (172) Das heit, dass Freias
heraus formt, sondern dass diese Identitt vielmehr durch kulturelle Vorstellungen
und Bilder ihrer Gesellschaft, bezglich dessen, was und wie eine Frau zu sein und
Ihre geschlechtliche Reife und die damit verbundenen Frauenbilder, die von
diesem Zeitpunkt an verstrkt auf sie projiziert und von Mutter und Gromutter
Freia auf das Frau-werden und die damit verbundene geschlechtertypische Rolle
einer Hausfrau und zuknftigen Mutter vorzubereiten, doch Freia war tief
weinte spter in [ihr][...] Kissen. (72) Pltzlich soll Freia ihrer Mutter beim
Geschirrsplen helfen und kochen lernen doch: [Sie] [...] sah berhaupt nicht ein,
warum [...] [sie] [s]ich pltzlich fr etwas wie Kochen interessieren sollte, blo weil
einmal im Monat Blut in [ihrer] [...] Unterhose war. (72) Die geschlechtsspezifisch
Gedchtnisses, d.h. kulturelle Vorstellungen und Bilder der Frau werden anhand des
vehement gegen die geschlechtsspezifischen Erwartungen, die man nun an sie stellt.
Die Ablehnung und Isolierung der Frau durch den Mann, die Freia innerhalb der
Ambivalenz, Frau zu sein. Ihren ersten Freund Wieland, ihre erste Liebe, hlt Freia
lange Zeit vor ihren Eltern, Groeltern und sogar Paul geheim. Doch nachdem
Wieland die Beziehung zu Freia beendet, weil er mit ihrem Bruder Paul eine
Liebesbeziehung eingegangen ist, bricht fr sie eine Welt zusammen. Als Wieland
ihr als Widergutmachung des Vertrauensbruchs und Betrugs Blumen schickt, fhlt
sie sich noch gedemtigter und zurckgewiesener als zuvor. Musste er mich im
nachhinein zur Frau machen, um mich mit gutem Gewissen ablehnen zu knnen?
Peter schenkte Renate Blumen, um sie mit ihnen allein zu lassen ich hatte von
Blumen die Nase voll. (229-230) Inwieweit Freia Weiblichkeit und Frausein mit
Freia lehnt auch ihren offiziellen Namen Eva Maria ab. Sie erklrt: Eva
Maria! Eva verkrpert nun einmal Weiblichkeit schlechthin, und damit konnte ich
mich nicht gut anfreunden. Obendrein hie auch noch Hitlers Geliebte und Ehefrau-
fr-einen-Tag so. (76-77) In ihrem Namen Eva Maria verbindet sich Weiblichkeit
und ihre Verstrickung in und Verbundenheit mit der deutschen und der christlichen
Geschichte, die ihr, wie allgemeinlufige Vorstellungen von Weiblichkeit auch, von
Jo und Renate vermittelt werden. Ihr Spitzname Freia ist in Rheingold die
Hterin der ewigen Jugend, die die Riesen von Wotan fr ihre Hilfe beim Bau der
Burg als Lohn fordern. (192) Freia hat fr sie zwar einen weitaus
Wagner und der nordischen Gottheit Freya, ein Zusammenhang, eine Verbindung
Mutterrolle, sowie der ungeklrten Vergangenheit ihrer Familie, versprt sie den
Drang, sich ausgiebiger mit ihrer Mutter und Gromutter zu beschftigen. [...] es
gab kein Entrinnen, ich musste mich stellen, der Zukunft und der Geschichte, die, in
Die Zpfe der jungen Freia, sowie die Bernsteinketten von Gromutter Jo und
aufgeklappten Alibert-Spiegel guckte, sah ich uns beide unendlich oft gespiegelt.
Dann fragte ich mich, ob Jo Renate, als sie klein war, auch die Haare gebrstet und
Zpfe geflochten hatte. (61) Wie ich bereits erluterte, werden Freia beim Haare
brsten und flechten, anhand Geschichten der Gromutter und dem Schweigen der
vermittelt bzw. in den Krper eingeflochten, die sich auerhalb der mnnlich
fremd. Es war ein verlngertes Krperteil [...]. (61) Diese Verleiblichung der
Erinnerungen ist weiblich kodiert und wird von einer Generation Frau an die
nchste vererbt.
Die schwere Bernsteinkette wird wie die langen Zpfe am Krper getragen und wie
die
Last
der
Geschichte
von
einer
Generation
an
die
nchste
gegeben.
Jo
und
Lena
71
tragen ihre Bernsteinketten, ihre Vergangenheit, ihre Geschichte stndig und stolz
um ihren Hals.
Meine Gromutter und Tante Lena hatten ihre Ketten sie waren nicht
feinperlig und filigran, nein, sie bestanden aus groen, dicken goldgelben
Perlen, die so auffllig waren, dass man sie nur mit Stolz oder gar nicht
Whrend Jo und Lena stolz die Bernsteinkette und Verkettung mit der
Schwere und der nicht abnehmen wollenden Wrme dergleichen.8 Die anhaltende
Krper, der noch nicht begraben werden konnte. Somit trgt Freia die Kette nach
dem Tod Lenas eine Weile um den Hals, wird ihrer Schwere und Last jedoch bald
berdrssig und lsst die Last der Ketten in ihren Jackentaschen verschwinden.
Doch wegwerfen oder unter anderen Erinnerungen vergraben kann sie die Kette,
das heit die Fesseln der Geschichte, nicht. Sie muss sie mit sich herumtragen, bis
sie sich erfolgreich von den schweren Ketten, der Last der familiren Vergangenheit
befreien kann.
8
Freia
beschreibt
recht
ausfhrlich
die
anhaltende
Wrme
der
Bernsteinkette,
die
wohl
von
der
Krperwrme
der
Tante
und
Gromutter
stammt.
Die
Bernsteinkette
muss
die
Wrme
des
menschlichen
Krpers
gespeichert
haben,
so
dass
Freia
noch
nach
dem
Tod
der
Tante
und
Gromutter
die
anhaltende
Wrme
der
Ketten
an
ihrem
Hals
spren
kann.
72
Die ersten Monate nach Lenas Tod habe ich die Bernsteinkette tglich
getragen, obwohl ich unter ihr litt, denn sie schien mir zu schwer, zu warm
und zu klobig fr meinen dnnen Hals. Spter legte ich sie zwar nicht mehr
um, brachte es aber nicht fertig, sie wegzuwerfen oder zuunterst in meine
Seekiste zu legen. Also trug ich sie immer mit mir in meiner Jackentasche
herum. (215)
Nachdem Jo stirbt, erhlt Freia auch die zweite Bernsteinkette, die nun in ihrer Jacke
zu der Kette von Tante Lena ein Gegengewicht erzeugt. Die rechte und linke
Jackentasche ziehen an Freia, wie die einst so krftigen und schweren Hnde von Jo
[...] ging auch die zweite Bernsteinkette an mich. Sie lag jetzt, ein
und rechts die Geschwisterketten, meine Taschen beulten sich noch weiter
aus, und manchmal war mir, als wrden krftige Hnde daran ziehen. (267)
Vergangenheit der Familie, als auch eine bestimmte Vorstellung von Weiblichkeit,
an ihre Tochter Aino, das heit die vierte Generation, zu vermitteln. Da Freias
geschlechtliche als auch gesellschaftliche Identitt jedoch auf einem in ihrer Kultur
gngigen und verbreiteten Gerst von Bildern, Riten und Rollenvorgaben basiert, in
welchem der Mann als Ausgangsgeschlecht verstanden wird und die Frau sich nur
in Relation zum selbigen definieren kann, kann die Frau, wie Sigrid Weigel
behauptet, nur ein verzerrtes Bild ihrer selbst erzeugen. Freia muss durch ihre
Auffassungen von Weiblichkeit ablehnt und dagegen rebelliert, sie nie ganz in der
Lage sein wird, sich von den vom Patriarchat auf sie projizierten Bilder und von ihr,
Identitt als Frau und Mutter zu schaffen, muss sie die auf sie projizierten und von
Position, die Freia als Frau in der Gesellschaft innehat, zwingt sie also mit einem
Auge die auf sie projizierten Bilder zu erkunden und sie gleichzeitig zu
definieren kann. Das Verstndnis ihrer Selbst beruht auf diesen Bildern und diese
knnen somit nicht vollstndig beseitigt, sondern nur kritisch konsumiert werden.
(Weigel 104) Die paradoxe Position, die Frauen innerhalb der Gesellschaft und des
Gedchtnisses sind. Deswegen ist es in dieser Familie Freia, die aufgrund ihrer
und die Lebensrume der Ich-Erzhlerin nach dem Tod der Groeltern, einnehmen,
wirkt auf Freia berwltigend. Vor der Geburt ihrer Tochter sucht sie ein
Wie auf ihrer metaphorischen Suche nach der transparenten, das heit licht- und
Wann ist etwas durchscheinend, durchsichtig, unsichtbar? Wie verhlt sich das
Unsichtbare zum Nicht-Vorhandenen? (58) Bisher ergibt das, was Freia ber ihre
Familie sowie deren Kriegs- und Fluchterfahrungen wei, kein transparentes Bild
der Vergangenheit und der involvierten Personen. Birte Giesler erlutert, wie Freia
Zwillingsbruder nach dem Tod der Groeltern von einer Masse von
Masse durch eine spezifische Form der Auf- und Umarbeitung zu begegnen:
(300)
Die Transformationsarbeit (56), die Freia und Paul leisten, besteht anfangs darin,
Obgleich Freia sich von der Masse an Erinnerungsstcken berwltigt fhlt, die ihre
Groeltern nie erwhnt geschweige denn kommentiert hatten, kann sie es nicht
verantworten, diese Gegenstnde einfach zu entsorgen, ohne dass diese sich einem
Freia
Jo
und
Mxchen
nicht
mehr
nach
den
Gegenstnden
befragen,
und
somit
75
einzelnen Gegenstnde und Paul baut ihre Worte gepaart mit dem jeweiligen
Selbstopfereinsatz. Ich wollte nicht, dass Brief gleich Brief war. [...] Diese
angeregt durch meine Erzhlungen, wrden eine andere Sprache sprechen ...,
wenn wir blo erst einmal durchkmen durch diese schiere Masse an
transparente, dass heit klar verstndliche Objekte werden. Doch auch Pauls Bilder
sprechen fr Freia keine klare Sprache. Die Vergangenheit der Mutter und
statt dessen machte Paul alles umstndlicher und rtselhafter als vorher.
Ich war zunehmend unzufriedener mit unserem Projekt. Ich wollte Klarheit
Die bevorstehende Geburt ihres Kindes setzt Freia unter Druck. Sie muss das Rtsel
ihrer Familie lften, sie muss ein klares Bild ihrer Familie, ihrer Mutter und
Gromutter vor Augen haben, um in der Zukunft der vierten Generation ein klares,
zu knnen. Doch aufgrund des verzerrten Bilds das Gromutter und Mutter von der
Vergangenheit haben, kann sie auch kein klares Bild ihrer selbst finden. Freia
versuchte, als sie sich die Zpfe entfernte, soll keine Verkettung mehr von Lgen,
Ich will nur nicht, dass du den ganzen Mll einfach reproduzierst...! [...] ich
aus Schweigen, Totschlag und nochmals Schweigen, zu der ich nun fr immer
gehren wrde. ber meinen Tod hinaus. Denn mein Kind, meine Kinder,
Nach dem Tod der Groeltern muss deren Wohnung aufgelst werden. Da Jo wie
einem groen Unterfangen, von dem Mnner entschuldigt wurden. Eine Woche
schufteten wir in der Wohnung meiner Groeltern; [...] Die Mnner glnzten durch
Abwesenheit. (256) Birte Giesler interpretiert das Fehlen der Mnner, als Indiz
dafr,
dass
die
mnnlichen
Mitglieder
der
Familie
nicht
viel
mit
Erinnerungsarbeit
77
im Sinn zu haben [scheinen]. (174) Doch muss man bedenken, dass die Mnner, das
heit Mxchen, Peter und Paul, in vielen Situationen sehr wohl Teil der familiren
Erinnerungen geht. An was und auf welche Art und Weise von Mnnern erinnert
wird, unterscheidet sich zwar wesentlich von den Erinnerungsweisen und Themen
der Frauen, bedeutet jedoch nicht, dass Mnner vollstndig von der
Frauen nur ein marginaler Teil des dominanten kulturellen Gedchtnisses sind,
Deswegen findet nur unter den Frauen der Familie, wie Jo, Lena, Renate und Freia
ein Austausch bezglich des Geheimnisses der Flucht aus Gotenhafen statt. Der
Wenn die ganze Familie, das heit Mnner und Frauen, zusammen ist, dann
erinnert man sich an den schrecklichen Verlust von Heimat, Wohlstand als auch den
Gotenhafen, sowie die bsen Russen und natrlich wird auch gesagt, dass man zwar
gute Verbindungen zur Partei hatte aber nie nazi-deutsch gewesen sei und deren
kulturellen Gedchtnis kursieren. Die Tatsache, dass die Groeltern sehr wohl treue
und
stolze
Nazianhnger
waren,
dass
der
Grovater
als
Wehrmachtssoldat
hchst
78
andere Bekannte verriet, was ihnen das Leben gekostet haben knnte, dass Renate
ihren Spielgefhrten denunzierte, der daraufhin samt Familie auf der Gustloff
Freia pltzlich Erinnerungsgegenstnde in die Hnde, die sie schockieren und deren
Existenz sie nicht vermutet htte, wie etwa Beweise fr die Nazitreue der
Groeltern wird es ihr mglich, ein klareres Bild der Familiengeschichte, als auch
neugewonnenen Information ein akkurateres Bild ihrer Gromutter als auch Mutter
fr sich erzeugen.
Mir pltzlich auf, wie viele kleine grenzwertige uerungen ich doch von
ihnen kannte, doch nie hatte ich diese bisher zu einem stimmigen Gesamtbild
zusammengefgt, nie wre mir frher in den Sinn gekommen, Mxchen und
Jo als Nazis zu bezeichnen. Mein Grovater mit seiner Prothese und seinem
wunden Stumpf hatte bei uns seit jeher uneingeschrnkte Liebe und
Zuneigung erhalten, und wenn Jo von der glcklichsten Zeit ihres Lebens
Freia sieht rckblickend ein, dass sie sich von den groelterlichen Geschichten hat
tuschen lassen und dass sie die Wahrheit auch nicht wirklich sehen wollte. Opas
Groeltern zwar nicht heldenhaft erscheinen, doch kommt ihnen von Freia bis zum
bei der die Mnner durch ihre Abwesenheit glnzten, erhlt Freia, aufgrund ihrer
mit der Geburt ihrer Tochter Aino und nach dem Tod der Mutter und Gromutter
bernimmt, die nun fr die Generationen sprechen muss, deren Erinnerungen keine
des Nationalsozialismus und des Holocaust gibt, stellt sich die Frage, wie man
an diese Zeit adquat erinnern, was und wer ins kulturelle Gedchtnis
gemeinsam literarisch zu verarbeiten und sie somit zu einem Teil des kulturellen
Luft, wie Cirrus Perlucidus, nach dem ich mich ein Leben lang gesehnt habe
und der unter meinem Kopfkissen spielend Platz finden knnte. (318)
80
5. Fazit
zu treten. Sie distanziert sich in ihrem Roman von den emotional aufgeladenen
Geschichten der ersten Generation und demonstriert, wie man sich an die deutschen
zahlreich die Regale der Buchlden schmcken, wie etwa Gnter Grass Novelle Im
ebenfalls das Thema des Untergangs der Wilhelm Gustloff auf. Doch in diesem Text
wird die Geschichte, aus der Perspektive des Ich-Erzhlers Paul Pokriefke erzhlt,
aus der Sicht der zweiten Generation, die keineswegs so objektiv und kritisch der
Opfernarrativfalle entgeht, wie es bei Dckers Roman Himmelskrper der Fall ist.
Schwere Katastrophen, wie der Verlust der Heimat durch Vertreibung oder
mssen nicht in Vergessenheit geraten, sie sollten jedoch nicht, und das drckt
Dckers
durch
ihre
Protagonistin
Freia
Sandmann
aus,
anhand
emotional
geladener
81
erinnert werden.
Vergangenheit der eigenen Groeltern zu relativieren und dabei an dem Bild des
lieben, guten Opas festzuhalten, ist, wie auch bei Freia Sandmann, ein weit
verbreitetes Bedrfnis. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass sich diese Generation
auseinandersetzen kann. Freia Sandmann gelingt es erst nach dem Tod der
Opfernarrativ zu lsen und kritisch zu beleuchten. Mit ihrem Roman weist Dckers
darauf hin, dass das u.a. von Welzer studierte Verhaltensmuster der dritten
Generation, zwar hufig beobachtet werden kann, dass diese Generation sich jedoch
Freia nicht nur kritisch mit ihrer Familienvergangenheit auseinander, sondern auch
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